Schule und Film: Brauchen wir Filmpädagogen?

Überlegungen nach einem Gespräch mit Detlef Endeward, NLQ

„Filmbildung“ ist jetzt Prüfungsthema. Die niedersächsischen Abiturienten des Jahrgangs 2012 werden sich im Fach Deutsch mit einer Prüfungsfrage aus dem Rahmenthema 7 „Filmisches Erzählen“ konfrontiert sehen. Vorher werden sie ein halbes Jahr lang erarbeitet haben, was das Kerncurriculum für die Qualifikationsphase (Klassen 11- 12) vorschreibt: „Der Film als erzählendes Medium bildet – in Analogie zum literarischen Erzählen – den Schwerpunkt des Rahmenthemas und wird beispielhaft sowohl anhand ausgewählter aktueller Spielfilme als auch Spielfilme der Filmgeschichte erarbeitet. Im Pflichtmodul werden unter filmästhetischen Aspekten Muster filmischen Erzählens anhand eines Spielfilms und verschiedener Filmsequenzen analysiert, die inhaltlich und formal an tradierte Mythen anknüpfen und – analog zu literarischen Verarbeitungen – Varianten bekannter menschlicher Daseinsmuster in filmischer Gestaltung vermitteln“. *

Von Detlef Endeward, der im Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ) den Arbeitsbereich Medienbildung leitet, wollte ich wissen, welches Lernziel durch diese curricularen Vorgaben abgesteckt wird. Geht es hauptsächlich um den Erwerb zusätzlicher kommunikativer Kompetenz? Soll die durch Lesen aufgebaute innere „Kulturgut“-Bibliothek um filmische Meisterwerke ergänzt werden? Die im Curriculum gleich zweimal beschworene Analogie zur Literatur kann ja nur bedeuten, dass sie der Maßstab bleibt. Wenn man zum Beispiel, sagte ich, Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ mit dem Film vergleiche, den Luchino Visconti aus der Vorlage gemacht hat, könne das doch nur zu dem Ergebnis führen, dass der (im übrigen sehr schöne) Film Manns subtile Dekadenz vordergründig vergröbert, weil Bilder zwar geheimnisvoll sein können, verschattet, vernebelt, unscharf – aber niemals so vieldeutig wie ein Wortgeflecht, durch das moralische Abgründe schimmern… Endeward protestierte: Es sei kontraproduktiv, darauf hinzuarbeiten, dass im ästhetischen Vergleich das literarische Werk stets dem Film den Rang abläuft. Ein Film müsse an filmspezifischen Kriterien gemessen werden. – Einverstanden, sagte ich. Aber woran macht man den Vergleich fest? Was haben gedruckte Wörter und Sätze mit laufenden Bildern gemeinsam?

Antwort: Alles ist Text. Literatur ist eine Textsorte, Film ist eine Textsorte. Die Literatur hat ihre Leitfunktion im Deutschunterricht längst an „die Medien“ abgeben müssen: „Die Vielfalt der modernen Medienwelt macht es unumgänglich, von einem erweiterten Textbegriff auszugehen, der Literatur, Sach- und Gebrauchstexte sowie Produkte der Medien umfasst. Indem sich die Schülerinnen und Schüler mit Texten unterschiedlicher medialer Vermittlung auseinander setzen, machen sie Erfahrungen mit der Vielseitigkeit kulturellen Lebens“. *i Theoretisch ist das begründbar. Was alle Medien verbindet, ist ihre Funktion, Information zu transportieren. An Hand vereinbarter Kriterien kann man die Vergleichbarkeit wählen. Es muss sich nicht um eine Eigenschaft der Text-Oberfläche, wie Schrift oder Bild, handeln, es darf auch das übereinstimmende Thema der beiden Textsorten sein. Mit dieser Definition lässt sich also beiseite schieben, dass ein Film ganz anders aussieht als ein Buch. Auf der einen Seite haben wir eine Buchstabenfolge, auf der anderen eine Bilderfolge, und beide erzählen Geschichten.

Nun könnte man einwenden, dass nur wenige Filme in ihrem Duktus mit einer Prosaerzählung vergleichbar sind. Weitaus mehr Gemeinsamkeit hat der Film mit einem anderen literarischen Genre, dem Drama. Die Filmdramaturgie ist fast so streng wie das Fünf-Akte-Theater. Aus der Szenenfolge – dem, was gezeigt wie dem, was weggelassen wird – lassen sich oft mehr Rückschlüsse auf die „Botschaft“ des Films ableiten als aus dem Dialog. Neben der Theaterwissenschaft macht noch eine weitere Disziplin dem Deutschunterricht das Vorrecht streitig, Film zu interpretieren: die Kunstgeschichte. Das Bild ist ihr ureigenstes Studienobjekt. Ziemlich spät hat sie die bildenden Künste als Zeichensysteme entdeckt. Inzwischen gibt es aber keine Präsentation moderner Kunst mehr, die nicht von Videos dominiert wäre. Die Entwicklung des Mediums erhält von da ihre entscheidenden Anstösse. Dennoch ist eine spezifische „Bildwissenschaft“ noch in den Anfängen.

Wer professionell Filme macht, bezweifelt, dass der Deutschunterricht ausreichende Methoden anbieten kann, um Schülern ein Medium zu erschließen, das an Filmhochschulen als ein in hohem Maß technisiertes Handwerk gelehrt wird. Vor allem: woher beziehen die in Sprach- und Literaturwissenschaft ausgebildeten Deutschlehrer die Kenntnisse, die sie ihren Schülern vermitteln sollen? Das neue Kerncurriculum für die Qualifikationsphase stellt hohe Anforderungen: „In Anknüpfung an das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler sind Wiederholung und Erweiterung eines grundlegenden filmanalytischen Instrumentariums mit dem Ziel notwendig, Machart und künstlerische Absicht zu erschließen und bewerten zu können“. Und das Wie? Die Methode? Das Stichwort lautet: „Bildanalyse“. Ein schwieriges Unterfangen bei bewegten Bildern; um das einzelne Bild zu betrachten, muss es angehalten werden, dadurch fällt es aus dem Zusammenhang. Beim Film ist der Zusammenhang aber alles. Der Fluss der Bilder ist konstitutiv, nicht die einzelnen Szenen. Darüber hinaus ist die „Botschaft des Bildes“ nicht symbolisch oder metaphorisch, also in Sprache übersetzbar, sondern sie ist optischer Natur; sie wird technisch produziert und emotional „gelesen“. Kalte Farben, harte Kontraste werden von unserem Nervensystem anders rezipiert als warme Farben und weiche Konturen, unscharfe Bilder rufen andere Empfindungen hervor als glasklare Bilder mit hoher Auflösung. Manche Bilder erzeugen Angst, andere Wohlbehagen. Was geschieht da mit uns? Wörter können nur Hilfsdienste leisten, denn sinnliche Eindrücke sind bestenfalls umschreibbar.

Welches Instrumentarium steht dem Lehrer zur Verfügung? „Szenenprotokolle“ oder „Sequenzanalysen“ sind das Äquivalent der altbekannten Bildbeschreibung, nur mit dem Unterschied, dass der Gegenstand sich permanent verändert. Die im Film gegebene Gleichzeitigkeit von Szene, Handlung, Personen, Dialog, Mimik und Gestik kann in der Sprache nur chronologisch nachvollzogen werden. Es entsteht ein seltsamer Widerspruch zwischen den sekundenkurzen Informationen, die eine Bildsequenz aussendet, und dem papierverschlingenden Unternehmen, sie in Worte zu fassen. Das Internet überschüttet Lehrer (und Schüler) mit Filmheften und Arbeitsblättern, die Visuelles eifrig in Wörter übertragen. Genau betrachtet, handelt es sich um eine akribische Beschreibung der Handlung und ihrer Interpretation auf die „Botschaft“ hin, die der Film (vermutlich) transportiert: eine politische, philosophische, gesellschaftstheoretische Haltung, für die sich Indizien finden lassen.

Schwerer zu fassen sind immanente Widersprüche, die sich im Spannungsverhältnis von Form und Inhalt offenbaren. Ein extrem gewalttätiger Film wie „Natural Born Killers“ kann, was den Inhalt betrifft, mit gleichem Gewicht als faschistische Feier des Massakrierens wie als Denunziation einer gewaltbereiten Gesellschaft interpretiert werden. Mehr als die Handlung verrät die Form die Absicht des Regisseurs Oliver Stone. Die spielerische, fast humoristische Übersteigerung des Rachefeldzugs von Mickey und Malory legt nahe, den Streifen als „schwarze Komödie“ zu klassifizieren, doch ist er eher eine psychodelische Tragödie. Die „Botschaft“ dieses Films findet sich in den leitmotivisch verwendeten, kurzen Schnitten, die den Missbrauch eines Kindes andeuten, und die man leicht übersehen kann. Es bleibt dabei: Für die Interpretation eines Spielfilms ist das Pars-pro-toto von Szenen und Sequenzen nicht aussagekräftig genug. Genauso wenig wie eine Symphonie auf einzelne Sätze komprimiert werden kann, ist ein Film aus einzelnen Szenen deduzierbar. Nur ein synthetisches Verfahren kann ihn – als Gesamtwerk – erfassen.

Einfacher gelagert scheint der Einsatz von Filmen im Geschichtsunterricht zu sein. Früher war der Historiker auf die Rekonstruktion historischer Ereignisse aus Quellen angewiesen, die von Chronisten mehr oder weniger zuverlässig gedeutet worden sind. Inzwischen wird so gut wie alles gefilmt. Der Geschichtslehrer, sollte man meinen, reibt sich die Hände angesichts der Fülle dokumentarischen Materials, das beispielsweise über den II. Weltkrieg existiert. Doch die Frage nach der Wahrheit ist dadurch keineswegs leichter zu beantworten. Denn, sagt der Historiker Endeward: „Ein Dokumentarfilm ist im Prinzip nicht weniger fiktiv als ein Spielfilm“. Die beste Darstellung des Grabenkriegs im 1. Weltkrieg sei „Im Westen nichts Neues“ – ein Spielfilm. Selbst ein Dokumentarfilm, der nur authentisches Material verarbeitet, zeige nicht die Realität, sondern Ausschnitte, die gemäß einer bestimmten Intention zusammengestellt worden sind. Als Geschichtslehrer setze er sich nicht mit dem Medium Film auseinander, sondern mit vier Realitäten: 1) der filmischen Realität (Filmanalyse), 2) der Realität der Bedingungen, unter denen der Film entstanden ist, 3) der Bezugsrealität: ist es ein historischer oder ein zeitgenössischer Film? 4) der Wirkungsrealität: welche Reaktionen hat er seinerzeit hervorgerufen, wie wird er heute aufgenommen? Im Unterschied zum Deutschunterrricht finde im Geschichtsunterricht die Auseinandersetzung mit dem Film im zeithistorischen Kontext statt. Jede Generation schreibe Geschichte neu, und stets im Bezug zu Gegenwart.

Für den Spielfilm wie für den Dokumentarfilm gilt die Regel: „Ein wesentlicher Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Medium ist das genaue Hinsehen“.* Dazu sollen, neben den analytischen, auch produktive Verfahren angewendet werden. Endeward setzt in Übereinstimmung mit dem Kerncurriculum auf „learning by doing“: Am Ende der 6. Klasse bereits sollen die Schüler “einfache filmische Gestaltungsmittel, insbesondere Kameraeinstellung, Kameraperspektive, Schnitttechnik“ kennen und sie „gegebenenfalls“ (d.h. wenn die Schule entsprechend ausgestattet ist) „selbst erproben“. Für die Qualifikationsphase wird in Aussicht gestellt, dass die Wahlpflichtmodule „auch produktionsorientiert ausgerichtet werden und somit die Gestaltung eines kurzen Films bzw. einzelner Filmszenen auf der Grundlage literarischer Texte oder selbstverfasster Treatments/Drehbücher in den Mittelpunkt stellen“.* Um das zum Standard zu machen, müssten die Schulen großzügig mit dem notwendigen Equipment ausgerüstet werden.

Und die Lehrer? Es ist anzunehmen, dass sie die „Textsorte Film“ mindestens so spannend finden wie die „Textsorte Literatur“, für deren Vermittlung sie ausgebildet worden sind. Ob aber die Orientierung per Curriculum, der Filmfundus „Merlin“, Fortbildungsseminare und „Schulfilmwochen“ sie zu Experten machen, die in der Lage sind, dem hohen Anspruch der Bildungspolitik zu genügen? Darf man überhaupt von ihnen verlangen, dass sie sich zusätzlich zu dem Vollzeitstudium, das sie absolviert haben, auf schmaler Spur ein weiteres Fach aneignen, bei dem ja keineswegs, wie beim Fußball, jedermann mitreden kann, auch wenn jeder Videokamerabesitzer sich als Filmemacher wahrnimmt? Die Bildungspolitik, die A sagt zur Vermittlung von Medienkompetenz, wird, um Nägel mit Köpfen zu machen, nicht darum herumkommen, B zu einem neuen Lehrertyp zu sagen: dem Filmpädagogen.

*) Abgedruckt im Rundbrief 105/ 2012, Film & Medienbüro Niedersachsen