Der Holocaust im deutschen Nachkriegsfilm

Inhalt

Das kollektive Vergessen

Einleitung

„Erinnerungskultur“ ist ein inzwischen fast inflationär verwendeter Begriff für al­les, was bisher Gegenstand der Geschichtsschreibung war, und genau genommen ein Pleonasmus, denn jede Kultur wächst aus einer Vergangenheit. Für die Histo­riographie bedeutet er, dass nicht mehr nur einzelne historische Aspekte „wahr“ sind, deren Evidenz auf archivierten, nachprüfbaren Quellen beruht, sondern dass das „Gedächtnis“ einer Kultur alles umfasst,  was – räumlich, materiell, sprachlich, performativ oder schriftlich – Erinnerung generiert. Entsprechend viel­stimmig ist heute die Geschichtserzählung. Dem Dokument wird zwar nach wie vor die höchste Beweiskraft eingeräumt. Doch nicht alles, was wahrzuneh­men war, wird aufgeschrieben. Die schriftliche Überlieferung ist zwangsläufig lücken­haft. Man kann hingegen als gewiss voraussetzen, dass sich Menschen stän­dig über alles austauschen.

Die „Erinnerungskultur“ ist nicht einfach eine Schnitt­menge individueller Gedächtnisakte, sondern geht aus dem Austausch hervor, der registriert, bewertet und verändert. Diese Erweiterung des Forschungsf­eldes Geschichte um die mündliche Tradierung hat einen Namen: „Kol­lektives Gedächt­nis“. Der Soziologe Maurice Halbwachs1 entdeckte es, als er über die identitäts­stiftende Funktion von Familienerzählungen nachdachte.  Aleida und Jan Ass­mann  haben den Gedanken aufgegriffen und vor das  „kollektive“ das „kommuni­kative“ Gedächtnis gesetzt2;  das trägt dem Zeitfaktor Rechnung und er­klärt die Funktion der „externen Erinnerungsträger“3  als Gedächtnisstützen. Die auf un­mittelbarem Erleben beruhende Geschichtserzählung versiegt nach etwa 80 Jah­ren; dann kann nichts mehr das kollektive Gedächtnis korrigieren, das nun ganz von materiellen „Erinnerungsträgern“ abhängt: Schriftstücken, Büchern, Bil­dern, Tonbändern. Filmen. Grundsätzlich gilt:  Geschichtserzählung, auch Zeugen­schaft,  ist Rekonstruktion. Die „Wahrheit“ ist der Wirklichkeit vorbehalten.

In­nerhalb dieses Begriffsfeldes soll der Frage nachgegangen werden, wie der Völ­kermord der Deutschen an den Juden, nachdem er durch den Nürnberger Haupt­kriegsverbrecherprozess 1945/46 der Öffentlichkeit bekannt gemacht wor­den ist, aus dem Zustand „kommunikativer Erinnerung“ in das „kollektive Gedächtnis“ der ost- bzw. westdeutschen Bevölkerung transferiert wurde, und zwar mittels des Mas­senmediums Film. Die vorliegende Untersuchung fragt danach, ob und unter wel­chen Vorzeichen die Berichterstattung über den Genocid (der Begriff Holo­caust wurde noch nicht ver­wendet) in den deutschen Spielfilm der Nach­kriegszeit einging und wie sich die Teilung Deutschlands auf diese Erinnerungs­arbeit aus­wirkte. Es wird sich heraus­stellen, dass ein solcher Vergleich die unter­schiedliche Funktion der Kultur im je­weiligen Teilstaat berücksichtigen muss. Im zentral ge­lenkten sozialistischen Staat wird die Filmkunst als Mittel der Indoktri­nation ein­gesetzt, der man sich nur un­auffällig entziehen kann. In einer Gesell­schaft mit verordneter Kultur ist auch der Diskurs (Filmkritik) reguliert. In einer offenen Gesellschaft hingegen unterliegt die Filmproduktion den Marktgesetzen; die Zahl der verkauf­ten Tickets markiert den Erfolg; der Diskurs begründet ihn.

„Kommunikative  Erinnerung“ im Hauptkriegsverbrecherprozess

Deutschland hatte am 8. Mai 1945 kapituliert. Die Siegermächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich hatten bei ihrem Treffen in Potsdam vereinbart, die nationalsozialistische Führungsclique vor einem  Internationalen  Militärge­richt zur Rechenschaft zu ziehen.4 Der „Hauptkriegsverbrecherprozess“ fand vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nürnberg statt. Rechtsgrundlage war das Völkerrecht. Die Anklage lautete auf: „Vorbereitung eines Angriffskrie­ges“, „Verbrechen gegen den Frieden“, „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen ge­gen die Menschlichkeit“5. Da der Vorwurf „Siegerjus­tiz“ im Raum stand, achteten die Anklagevertreter penibel darauf, dass die gülti­gen Prozessordnungen eingehal­ten wurden und legten etwa 5000 Dokumente vor, die ins Deutsche übersetzt wur­den. Das Medium Film wurde, neben Dokumenten und Zeugenaussagen, in Nürn­berg zum wichtigsten Beweismittel.  Filme scheinen die kommunikative Unmit­telbarkeit zu unterstützen, denn sie zeigen Ereignisse und Personen in Realzeit, und man kann sie wiederholen. Insofern sind sie, wie Aleida Assmann feststellt, besonders gut geeignet als „externe Erinnerungsträger“ für „das Erfahrungsge­dächtnis der Zeitzeugen“6. Da aber Bilder sich nicht selbst erklären, bedürfen sie des Kommentars, das grenzt ihre Verlässlichkeit als Zeug­nisse ein. Der Zuschauer kann z.B. getäuscht werden hinsichtlich des Ortes und Datums der Entstehung. Im „Hauptkriegsverbrecherprozess“ kamen keine Zweifel an der Au­thentizität der Aufnahmen auf, allerdings an der Legitimität ih­rer Verwendung. Die Haupt­kriegsverbrecher hatten nicht eigenhändig gemordet, sondern „nur“ die entspre­chenden Befehle erteilt. Man musste das Strafrecht ent­sprechend interpre­tieren, um die faktisch Verantwortlichen für schuldig zu erklä­ren, deren Verteidi­gung dar­auf abhob, dass sie nicht persönlich involviert waren. Dem Gericht blieb gar nichts anderes übrig, als auf die gigantische Dimension der Verbrechen abzu­heben und das Prinzip der Wiederholung, das bei den Massen­morden zur Anwen­dung kam, in der Beweisaufnahme ebenfalls anzuwenden. Zu diesem Zweck ordnete das Tribunal die Filmvorführung an, für die der Gerichts­saal in Arenaform gestal­tet war.  Etwa eine Stunde dauerte die von der amerikani­schen Armee und den sie begleitenden Berichterstattern bei der Befreiung der Konzentrationslager im Reich gefilmte Dokumentation „Nazi Concentration Camps7. Danach wurde die Sit­zung abgebrochen; das Gericht verließ kommen­tarlos den Saal. Die Bilder von Leichenbergen und bis aufs Skelett abgemagerten Häftlingen gaben dem Ge­nocid ein erstes Gesicht. Unter dem Stichwort „German atrocities“ gingen sie um die Welt und beglaubigten noch jahrelang, eingeschnit­ten in Spielhandlungen, schwarzweiß und unfassbar in ihrer Brutalität, die histo­rische Wahrheit des Holo­caust. Jedenfalls im Westen.

Die Sowjets nutzten die Gelegenheit des Internationalen Gerichtshofs konsequent für ihre eigenen politischen Zwecke. Auch sie zeigten erschütterndes Filmmateri­al – nicht als Beweis für den Holocaust, sondern für den Angriffskrieg. Mit der Berichterstattung über den Prozess beauftragt war Roman Karmen, „eine ‚Säule‘ der sowjetischen Filmpropaganda“8, Teamleiter der Armee-Kameraleute und Lie­ferant der Bilder, die der sowjetische Anklagevertreter brauchte. Über die Befrei­ung der Todeslager Auschwitz und Majdanek waren noch vor dem Prozess sowje­tische Dokumentarfilme in Umlauf gebracht worden – nachdem alles, was darauf hin­wies, dass es sich bei den Häftlingen um Juden handelte, aus ihnen entfernt wor­den war9. Die vom Politbüro der KPdSU durchgesetzte Lesart war, dass der deut­sche Überfall auf die Sowjetunion nicht rassistisch motiviert, sondern Teil des Kampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus in seiner faschistischen Aus­formung war. Der sowjetische „Beweisfilm“ hatte den Titel: Die Filmdokumente der Gräueltaten der deutschfaschistischen Eindringlinge in die UdSSR.10 Doku­mentiert werden der Überfall auf ein kaum gerüstetes Land, die Ermordung so­wjetischer Kriegsgefangener, die Verschleppung der Ukrainer zum Arbeitsdienst ins Reich, die Zerstörung der Industrien, die Ausplünderung der Landwirtschaft, die Erschießung von Frauen und Kindern. Etwas fehlt durchgehend: Hinweise, dass die Mordaktionen der Deutschen den Juden galten. Das war kein Versehen. „Ursprünglich hatten [sie11] in den befreiten KZs Aufnahmen gemacht, die auf die jüdische Identität der Opfer hinwiesen. Aus offizieller Sicht waren jedoch die Ju­den keine Hauptopfer von Majdanek und Auschwitz“12. Die jüdische Identität der Opfer wird verschwiegen. Dies verweist auf die Schwachstelle des Erinnerungs­trägers Film: Bilder müssen eingeordnet und erläutert werden. Das macht sie ver­wendbar als als Propaganda-Material. Der Kommentar behauptet etwas, das sie nicht zeigen. Nach Ende des Prozesses kam Karmens Dokumentarfilm unter dem Titel Das Gericht der Völker (Sud Narodov) in die Kinos der sozialistischen Län­der und verbreitete die offizielle Lesart des „Urteils von Nürnberg“: „Wie der gro­ße vaterländische Krieg in der Sowjetunion eine gemeinsame identitätsstiftende Kampf- und Leider­fahrung ‚aller Völker‘ werden sollte, so sollte der Nürnberger Hauptkriegsverbre­cherprozess in der öffentlichen Erinnerung als ein Akt der Rechtsprechung fortbe­stehen, der ‚im Namen aller Völker‘ erfolgte und NS-Ver­brechen ‚an allen Völ­kern‘ mit den slawischen Völkern als Hauptleidtragenden strafrechtlich ahndete“13. Die Leiden der Juden wurden subsummiert unter die Leiden des russischen Vol­kes. Das führte in der Zukunft „zu einem fast vollstän­digen Verschweigen des Holocaust in der sowjetischen Öffentlichkeit […] “14. Sechzehn Jahre später, 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau, wird in die Kinos der DDR ein Remake von Sud Narodov gelangen: Der deutsche Überfall, die brennen­den Dör­fer, die zerbombten Städte, die Häftlinge, die Toten – und ganz zum Schluss Bil­der aus der Bundesrepublik, die sich in der Tat von mehr Alt-Na­zis hat repräsen­tieren lassen, als einem jungen demokratischen Staat zu Gesicht stand: Hans Globke15 und Theodor Oberländer16 in Amt und Würden, Verteidigungsmin­ister Franz Josef Strauss am Rednerpult, Hakenkreuze auf Klinkermau­ern, Bun­deswehr auf dem Exerzierplatz, eine amerikanische Rakete auf ihrem Crawler, da­zwischen wieder Kriegsbilder von Wehrmachtssoldaten auf dem Vor­marsch durch brennende russische Dörfer… Propagandafilme wie Sud Narodov, die kein Ver­fallsdatum zu haben scheinen, vertreten eine spezielle Kategorie unter den Erinne­rungsträgern einer Kultur. Die Bilder, die sie zeigen, dienen nicht der Information über bestimmte vergangene Ereignisse, sondern der Emotionalisie­rung, indem sie an die Ängste und Hassgefühle appellieren, die von diesen Bil­dern seinerzeit ausgelöst worden sind.

Für den amerikanischen Anklagevertreter Robert H. Jackson ist der Prozess von Nürnberg 1946 ebenfalls unabgeschlossen geblieben, wenn auch in anderer Hin­sicht. Er wollte die menschliche Zivilisation retten, „da sie eine Wiederholung ei­nes solchen Unheils nicht überleben würde“17. Er versprach sich davon, dass „die­ser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen“18 wird. Deshalb durfte die Bestrafung auch nicht auf ei­nen Racheakt hinauslaufen. „Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven19“. Seine Schuld bestehe hauptsächlich dar­in, dass es den Nazis „in der Stunde ihres Erfol­ges offene Zustimmung und blin­den Gehorsam entgegenbrachte“20. Die Sieger fühlten sich in der Pflicht, eine Wiederholung durch reeducation zu verhindern. „Es ist die Absicht der Alliierten, dem deutschen Volk Gelegenheit zu geben, sich darauf vorzubereiten, später sein Leben auf demokratischer und friedlicher Grund­lage neu aufzubauen“21. In ihren Besatzungszonen werden die westlichen Sieger­mächte die Nazis aus Medien und Kultureinrichtungen vertreiben, Verlagslizenzen einziehen und neue vergeben, Bib­liotheken gründen, in der sie den Deutschen die lange vorenthaltene englisch­sprachige Weltliteratur anbieten. Auch die Sowjets setzen auf Kultur, die sie nur enger definieren: sie muss antifaschistisch sein, und wenn klassisch, dann rus­sisch. Um über die Sprachbarrieren hinweg das deutsche Publikum zu er­reichen, fördern die Russen gezielt das emotionalisierende Medi­um Film.

Die DEFA

Bei der Gründungsfeier der DEFA22 im Mai 1946 in den von Goebbels für seine Durchhalte-Filme bis zuletzt genutzten Studios in Berlin-Babelsberg rief Oberst Lubanow als Vertreter der SMAD23 dazu auf, aus der „Massenkunst Film eine scharfe und mächtige Waffe im Kampf gegen die Reaktion, für die tiefgehende Demokratie, gegen den Krieg und den Militarismus, für Frieden und Freundschaft aller Völker der ganzen Welt“ zu machen.24 Der staatsoffizielle Antifaschismus war ein Reformprogramm für die Institutionen und ein Umerziehungsprogramm für die Köpfe. Das keineswegs durchgehend nazikonforme Personal in den Babelsberger Studi­os hatte davon profitiert, dass Goeb­bels an die propagandisti­sche Wirkung seiner Filme fest glaubte und alle uk. stel­len ließ, die unentbehrlich erschienen, unter ih­nen den Kleindarsteller Wolfgang Staudte und den Chemiker Dr. Kurt Maetzig. Nach Berlin waren 1945 zahlreiche Exilanten zurückgekehrt, darunter aus Moskau die Familie des jüdischen Arztes und Schriftstellers Fried­rich Wolf, dessen Sohn Kon­rad als 19-Jähriger mit der Roten Armee nach Berlin marschiert war und später zu einem der wichtigsten Regisseure der DEFA wurde. 1945 kam zum Zug, was ein guter Start für ganz Deutschland hätte sein können, wenn das Genre eine Zu­kunft gehabt hätte: „Besinnungsfilme“ wie Die Mörder sind unter uns von WolfgangStaudte(EA Oktober 1946) und Ehe im Schatten von Kurt Maetzig (EA Novem­ber 1947), die beide die jüngste Vergangenheit reflektie­ren; wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Wolfgang Staudte, Jahrgang 1906, „ständig beschäftigt“ in Nebenrollen, später Regisseur harmloser Unterhal­tungsfilme, erhielt 1946 von der SMAD25 die Genehmigung, sein Drehbuch für Die Mörder sind unter uns26 zu reali­sieren. Er setzt die Ruinenlandschaft in einem dramatischen Hell-Dunkel-Neorea­lismus so visionär ins Bild, dass diese Frequen­zen dem zerbombten Berlin ein er­innerungswürdiges Denkmal setzen. Hier be­gegnen sich zwei Personen, Dr. Mer­ten, ein Arzt und Kriegsheimkehrer und Su­sanne, eine entlassene KZ-Insassin, physisch und moralisch ganz unwahrschein­lich unversehrte Charaktere, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann, wenn es gegen einen Dritten geht, den Haupt­mann a.D. namens Brückner, Mer­tens militärischen Vorgesetzten, den dieser für ein Kriegsverbrechen bestrafen will, dessen Augenzeuge er war (Augenzeuge, nicht Mittäter): Die Erschießung von 121 Frauen und Kindern als Racheakt für ei­nen Partisanenanschlag in einem polnischen Dorf. Merten plant also einen Akt privater Lynchjustiz im Namen un­bekannter Opfer; was moti­viert ihn? Sein Sinn für Gerechtigkeit? Das Massaker wird nicht unter den Genozid eingeordnet, an den in diesem Film nur ein 5 Sekun­den kurzes Insert mit einer Zeitungsschlagzei­le erinnert: „2 Millionen Men­schen vergast“. In der Unter­zeile ist der Name Auschwitz zu erkennen. Das „Ich-bin-un­schuldig“, das der Hauptmann a.D. Brückner wie ein Mantra repetiert, nimmt das „Nicht-schuldig“ der Angeklagten von Nürnberg auf. Vermutlich spie­gelt der Film Gefüh­le, die dem Zuschauer be­kannt waren: Rachephantasien, und den Verzicht darauf. Er kam kurz nach der Ur­teilsvollstreckung in Nürnberg in die Kinos (15. Oktober 1946), als die Gerichts­berichterstattung, die über den Rundfunk verbrei­tet worden war, noch unmittelbar wirkte und die Stimmung im Land der alliierten Justiz zu 78 % Recht gab27. Im übrigen enthält er das Resümee des Prozesses: Schuldig waren diejenigen, die die Befehl erteil­ten. An ihnen wurde die Strafe vollzogen; der Rest der Deutschen war entlastet. In ein verheißungsvolles Licht getaucht, se­hen Merten und Susanne der Zukunft entgegen. Bezeichnend für die Situation in Deutschland ist die Auss­trahlungsgeschichte des Films28. Die Ameri­kaner und Briten verzögerten die Freigabe in ihren Besatzungszonen. Über inter­nationale Festivals wurde er im Ausland be­kannt.

Die erste überzeugende Auseinandersetzung mit dem täglichen Verrat der Deut­schen an ihren jüdischen Nachbarn stellt der Film Ehe im Schatten29 dar, dessen Regisseur Kurt Maetzig persönlich betroffen war. Seine jüdische Mutter hatte Selbstmord begangen, weil sein Vater sie nicht vor der Deportation hätte schützen können. Kurt Maetzig selbst hatte sich bei der technischen Herstellung der NS-Filme unentbehrlich gemacht und wurde mehrmals von der Deportation freige­stellt. Der Stoff, den er verfilmte, war die wahre Geschichte des populären Ufa-Darstellers Joachim Gottschalk, der im November 1941 gemeinsam mit seiner Familie aus dem Leben geschieden war, weil seiner jüdischen Frau und dem Sohn die Deportation bevorstand. Es war die erste kritische Konfrontation des deut­schen Filmpublikums mit der Realität des Naziregimes, die keinem Zeitgenossen entgehen konnte. Die Erstaufführung fand am 3. Oktober 1947 in allen vier Berliner Sektoren gleichzeitig statt. Das Publikum hat laut Berichten überall mit großer Betroffenheit reagiert. Der Film er­reichte in den folgenden Monaten in ganz Deutschland rund zehn Millionen Zu­schauer. .Wenn die Verdrängung der Schuld auch näher lag, dem Trauern schienen sich die Nachkriegsdeutschen nicht entziehen zu wollen, denn kaum eine Familie hatte keine Verluste erlitten. Dies wäre ein Ansatz gewesen: eine Trauergemeinschaft, die sich den Rückkehrern öffnet. Der Mitschuld-Vorwurf lähmte auch den guten Willen.

KZ-Filme

Bilder der Lagerwirklichkeit zu zeigen oder nachzustellen, haben nur zwei west­deutsche Produktionen gewagt. Lang ist der Weg (1948)30 war eine mit amerikani­schen Geldern finanzierte Produktion in jiddischer Sprache, die zeigte, in welch verzweifelter Lage sich die nach Osten verschleppten, überlebenden Juden, nun „displaced persons“ ohne Staatsbürgerschaft, damals befanden, und die für die Aus­wanderung nach Israel warb. Sehenswert ist er als Dokument, denn er ist, mit rea­len Personen, an Originalschauplätzen gedreht: In Warschau und im Auffangla­ger Landshut. – In Morituri (1948)31 hat Artur Brauner, der spä­ter in allen Sparten sehr erfolgreiche Münchner Filmproduzent, der immer wieder Filme über den Ho­locaust riskieren wird, persönliche Erfahrungen visua­lisiert. Der gebürtige Pole hatte sich durch Flucht in die Sowjetunion der Judenverfolg­ung entziehen können, der fast seine ganze Familie zum Opfer fiel. Sein von Eu­gen York verfilmtes Drehbuch schildert den Fluchtweg eines KZ-Häftlings durch ein vom Krieg ver­wüstetes Land in den Westen. Es werden darin auch Szenen aus den German atro­cities zitiert. „Brauner geht, und darin stellt er eine Ausnahme im deutschen Nachkriegsfilm dar, auf die Perspektive der Ver­folgten ein, es kommt jedoch zu­gleich zu einer Universalisierung des Leids der Verfolgtengrup­pen“32. Ein Vor­wurf wie ein Nachtreten.

Der Historiker Norbert Frei geht davon aus, dass in den vier Jahren nach dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess die Stimmung in Westdeutschland um­schlug. Bei einer zweiten amerikanischen Evaluation im Herbst 1950 hielten nur noch 38 Prozent der Befragten die Alliiertenjustiz für „fair“. „Zu vermuten ist, dass das ablehnende Votum in weit stärkerem Maße ein Urteil über die gesamte Phase der justitiellen Säuberung darstellte, die […] mehrheitlich eindeutig negativ erlebt worden war“ 33. Frei macht die zwölf sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozesse und die zahlreichen Verfahren vor den Militärgerichten in den einzelnen Besat­zungszonen dafür verantwortlich. „Immerhin 184 handverlesene Vertreter der ge­sellschaftlichen Eliten, die das Funktionieren des NS-Systems garantiert und zu seinen Verbrechen entscheidend beigetragen hatten, mussten sich […] verantwor­ten: Generäle, Wirtschaftsführer, Juristen, hohe Beamte, Einsatzgruppenkomman­deure, Ärzte. Und das Ergebnis der Verfahren ließ an Eindeutigkeit nichts zu wün­schen übrig: Vier Fünftel der Angeklagten wurden verurteilt, 12 von 24 Todesur­teilen vollstreckt“34. Die Kritik an der Praxis der Entnazifizierung führte zu einer Solidarisierung der Leicht- mit den Schwerbelasteten, vom „Nürn­berger System“ war die Rede, die Kirchen schalteten sich ein. Hinzu kam, als die Wiederbewaff­nung sich andeutete, eine Kampagne zur Freilassung der deutschen Kriegsverbre­cher aus den Gefängnissen […], die auf breite Unterstützung in der Öffentlichkeit bei allen Bundestagsfraktionen außer der KPD stieß und sehr weit­gehenden Er­folg hatte. Insbesondere die Freilassung beinahe aller in den Nürnber­ger Prozes­sen verurteilten und in Landsberg einsitzenden Angehörigen der NS-Führungs­gruppen und die frühzeitige Entlassung von Schwer- und Schwerstbelas­teten aus Gefängnissen in den westeuropäischen Ländern waren auf diese konzer­tierten Be­mühungen zurückzuführen. […] So wurden Entnazifizierung und Nürn­berger Pro­zesse als Ausweis bereits empfangener Strafe und Sühne genommen […] und das dabei begangene ‚Unrecht‘ mit den Verbrechen des Nationalsozialis­mus gewisser­maßen verrechnet“.35 Die personelle Restauration konsolidierte den alten Ungeist.

Die Remigranten (BRD)

Der einzige westdeutsche Spielfilm, der sich in der Phase der Staatsteilung mit dem Thema Holocaust beschäftigte, war „Der Ruf36, in dem Fritz Kortner einen in die USA emigrierten jüdischen Philosophieprofessor spielt, der als Lehrer an ei­ner westdeutschen Universität den jüngsten Kriegsteilnehmern, die gerade an die Uni­versitäten zurückkehren und vermutlich noch nazistisch ideologisiert sind, die de­mokratischen Werte nahebringen will. Ursprünglich wollte Kortner, der in die USA emigriert war, nach Berlin ans Theater zurückkehren, doch war ihm als nun­mehrigem US-Bürger die „frater­nization“ durch Mitarbeit streng verboten. Der Produzent Eric Pommer bot ihm in einer deutsch-amerikanischen Produktion die Rolle des potentiellen Remigran­ten Professor Mauthner an, der an seiner Göttin­ger alma mater, der Georgia Au­gusta, eine Probevorlesung hält und mit unbelehr­baren Nazi-Studenten aneinander gerät. Mauthner hält nichts von der Kollektiv­schuldthese. Der Widerstand, auf den er trifft, ist zwar wettbewerbsbedingt – da­hinter steckt ein Kollege, der den Lehr­stuhl für sich beansprucht – aber dennoch antisemitisch grundiert. Ein Rezensent schrieb: „Die filmische Darstellung des Nachkriegsantis­emitismus ist realistisch. In der Tat befanden sich unter Lehrenden und Stu­dierenden viele vormalige Nazis, auch die Gruppe ehemaliger Berufsoffi­ziere war an den Univer­sitäten stark vertreten. An der Universität Göttingen […] machten ehemalige Offi­ziere, die sogenannten „Ledermäntel“, etwa ein Drittel der Studie­renden aus“37. „Der Ruf“, der das Thema des ungebrochenen Antisemitism­us in der BRD auf­greift, hatte ein beachtliches Presseecho, auch im Ausland. In der In­landspresse nahm man dem Film nicht ab, dass er auf dem laufenden sei: „Ist Kortners Urteil nicht ein Vorur­teil? Wogegen er auftritt, das, so glauben wir, lebt nicht mehr…“ 38

Die Remigranten (DDR)

Auch in der DDR waren es zurückgekehrte Juden, die über den Holocaust kom­munizieren wollten; sie hatten jedoch Gründe, nicht auf sich aufmerksam zu ma­chen. Die vom ZK der KPdSU in Moskau getroffene Sprachregelung, dass nicht die Juden die Hauptopfer des Nationalsozialismus seien, sondern die Völker der Sowjetunion, vereinfachte für die SED den Umgang mit Entschädigungsforderun­gen der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens; sie wurden kurzerhand zu­rückgewiesen, die Interessenvertretung zerschlagen: Das Jüdische antifaschisti­sche Ko­mitee in Berlin wurde im November 1948 aufgelöst, seine Mitglieder im Janu­ar 1949 verhaftet. „Für die in der DDR lebenden bzw. in sie zurückgekehrten Ju­den bedeutete diese antisemitische Konstruktion den wohl tiefsten Schock ihrer deut­schen Nachkriegserfahrung“39. Groehler unterscheidet für den Umgang mit dem Holocaust in der DDR in den Vierziger und Fünfziger Jahren mehrere Pha­sen: „Die von 1945 bis 1948 reichende Zeit des spontanen Antifaschismus und der schwa­chen Erinnerung an den Holocaust, aber der noch offenen Diskussion; das Jahr­zehnt der Verdrängung zwischen 1949 und 1959, gekennzeichnet durch einen or­thodoxen und zunehmend verengten Antifaschismus und geprägt durch die Züge eines stalinistischen Antisemitismus; die Phase der weitgehend politisch in­strumentalisierten Auseinandersetzung mit dem Holocaust seit 1960“.40

Auch die Familie des Arztes und Schrift­stellers Friedrich Wolf, mit den Söhnen Markus und Kon­rad, die den Krieg im Moskauer Exil verbracht hatten, und an de­ren eingewurzeltem Antif­aschismus kein Zweifel bestand, zog sich vorsichtig zu­rück. Friedrich Wolf ver­trat die DDR 1949-1951 als Botschafter in Polen und schrieb über Beaumar­chais und Thomas Müntzer. Konrad Wolf studierte von 1949 bis 1954 an der Filmhoch­schule in Moskau Regie. „Es war in der einstigen DDR bis weit in die 70er Jahre hinein kein Thema, darüber zu sprechen, welcher Schriftsteller, Künst­ler oder Politiker Jude war […] Dabei ist es wichtig zu beto­nen, daß dieser Prozeß einer sogenann­ten völligen Assimilation bereits lange vor der Zeit einsetz­te, als durch eine zu­nehmende Konfrontation mit dem Staat Israel und durch bru­tale an­tisemitische Verfolgungsmaßnahmen in der letzten Phase der Stalin-Dikta­tur diese Problematik von den Betroffenen schon aus eigenem Schut­z interesse nicht mehr berührt wur­de“41.

Friedrich Wolf konnte es offenbar riskieren, trotzdem Flagge zu zeigen. Die DEFA produzierte sein Drehbuch Der Rat der Götter (1950)42 in der Regie von Kurt Maetzig. Gekleidet in ein optisch ausschweifendes Gesellschaftsporträt, geht es – im Zusammenhang mit dem Nürnberger IG-Farben-Prozeß, dessen Protokolle die Autoren sich besorgt hatten – um die Frage, ob die KZs letztlich nicht dem Inter­esse des internationalen Ka­pitals gedient hätten. Eine direkte Beziehung zwischen der Giftgas­produktion in der chemischen Industrie und dessen Anwendung in den Gaskammern herzustellen, wird allerdings nicht versucht. Die Aufklärung ver­steckt sich im Dia­log. „So wissen die Protagonisten bereits während des Krieges um die Vernich­tungspraxis in Auschwitz mit Zyklon B, das im Werk produziert wird… Der Rat der Götter verfällt also nicht der Strategie, mit Nichtwissen die Nichtverantwort­lichkeit zu erklären, wie so oft an anderer Stelle geschehen“ 43. Die handlungstrag­ende Figur, der Chemiker Dr. Scholz, der in dem inszenierten Nürnberger IG-Farben-Prozess als leitender Angestellter auf der Anklagebank sitzt, geht sogar so weit, sich für schuldig zu erklären, weil er weiter forschte und Formeln produ­zierte, obwohl er wusste, dass er eine Massenvernichtungsmaschi­nerie be­lieferte. Mit diesem Mitschuld-Bekenntnis eines Mitläufers geht Friedrich Wolfs Drehbuch weiter als alle bisherigen Stellungnahmen zum Holocaust nicht nur in der Filmproduktion der DDR. Man kann dem Film zwar vorwerfen, die Op­fer würden „gewissermaßen funktional eingesetzt, um den Klassenfeind zu diskre­ditieren. Mehr Raum als diese abstrakte Funktion be­kommen die Opfer nicht zu­gesprochen“44. Den Holocaust ausdrück­lich zu thema­tisieren, hätte gegen die Par­teilinie verstoßen. Die Frage der persönlichen Verantwortung zu stellen, war im­merhin möglich. Der Film – beziehungsweise „das Filmkollektiv“, in das, ver­mutlich um die Verantwortung zu verteilen, außer Drehbuchautor, Kamera­mann, Regisseur und Szenenbildner auch Johannes R. Becher, Präsident des Kulturbund­es und Vizepräsident der Deutschen Akademie der Künste, einbezogen war – wur­de am 8. Oktober 1950 mit dem DDR-Nationalpreis erster Klasse aus­gezeichnet. Dann kam „das Jahrzehnt der Verdrängung“ bzw. der antifaschisti­schen Pflicht­übungen gegenüber die Bundesrepublik.

In Westdeutschland verlief die Wiedereingliederung der jüdischen Rückkehrer zwar nicht ganz so diskriminierend wie in der DDR, wo sie wie andere „Opfer des Faschismus“ immerhin grundversorgt wurden, solange sie keine Forderungen stellten und die Bereitschaft zeigten, sich zu assimilieren, doch mehr Gerechtig­keit erfuhren sie auch in der westdeutschen Gesellschaft nicht. Es „bleibt vieles schockierend, was uns beispielsweise als Rechtsprechung in Entschädigungs- und Wiedergutmachungssachen aus den fünfziger und sechziger Jahren – und zum Teil darüber hinaus – entgegentritt.[…] Gleiches gilt für die Rechtspolitik und die Rechtspraxis gegenüber den NS-Straftätern. Dass der Ahndungswille einer nahezu vollständig restaurierten deutschen Justiz angesichts der vergangenheitspoliti­schen Signale aus Bonn schon in den frühen fünfziger Jahren rapide nachließ und gegen Mitte des Jahrzehnts praktisch zum Erliegen gekommen war, ist mittlerwei­le bekannt“ 45. Mit den davongekommenen Tätern erhielt sich der Geist der 30er Jahre. – So ergibt sich in den 50er Jahren im Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust eine merkwürdige Parallelität des Schweigens in den beiden Teilstaa­ten, in dem man einen verpuppten Antisemitismus ahnen kann; mit dem Unterschied, dass er in der DDR als Staatsraison verordnet wurde, während er in der Bundesrepu­blik von denselben Bevölkerungsschichten, wenn nicht den gleichen Personen wie vor dem Genocid, mehr oder weniger privat fortgesetzt wur­de.

Sterne46

Der erste das Thema adäquat bewältigende deutsche „KZ-Film“ kam aus der DDR.47 Er wurde 1958/9 möglich 1) als deutsch-bulgarische Koproduktion, die in Bulgarien realisiert wurde, also außerhalb der Zuständigkeit der SED-Kontrollor­gane, 2) durch die Zusammenarbeit Konrad Wolfs mit einem Studienkollegen von der Moskauer Filmhochschule, dem bulgarischen Drehbuchautor Angel Wagen­stein, mit dem er die jüdische Erfahrung der erzwungenen Selbstverleugnung teil­te, 3) auf Grund der Wehrmachtserfahrung von Wolfs Kameramann Werner Berg­mann, und 4) weil Filmaufnahmen im Außendreh erlaubt waren48 und auf diese Weise glaubwürdige realistische Bilder entstanden. Es war wohl die Gelegenheit, endlich einmal befreit vom antifaschistischen Maulkorb die Wahrheit des Holo­caust zeigen zu können, die Konrad Wolfs Team zu diesem Ausnahmefilm befä­higte. Der Film beginnt mit einer sogenannten Vorblende. Als Juden gekennzeich­nete Menschen werden gezwungen, bei Nacht und Nebel in einen Güterzug zu steigen. Eine Abblende führt in das improvisierte Lager, aus dem sie kommen. Der Zuschauer weiß also von vornherein, dass er sich auf eine Geschichte einlässt, die fatal ausgeht. Dies unterläuft die Erwartung eines spannungsreichen Dramas, das die Wirklichkeit des Holocaust leugnet, indem es auf Hoffnung setzt. Das war das Rezept der „Westfilme“ zu diesem Thema. Die „Ostfilme“ wurden mit immer derselben Lehre in die Kinos geschickt: Schuld sind allein die „Faschisten“, die sich jetzt in der Bundesrepublik tummeln.

Die Handlung: Der Unteroffizier Walter, ein Kunststudent (Typ Träumer), ist in einer Kleinstadt an der bulgarischen Grenze stationiert und wird mit einem Auf­trag in das improvisierte Lager auf dem Schulgelände des Städtchens geschickt, wo eine Gruppe griechischer Juden auf ihrem Abtransport nach Auschwitz Station machen müssen. Walter wird von Ruth angesprochen, einer jungen Lehrerin, die ihn beobachtet und ihn um medizinische Hilfe für eine Lagerinsassin bittet, die kurz vor der Niederkunft steht. Walter lässt sich darauf ein und trifft Ruth oft ge­nug, um sich in sie zu verlieben. Als ihm von seinen Kameraden klar gemacht wird, was der Transport nach Auschwitz bedeutet, sucht er nach einer Möglich­keit, Ruth zu retten; vergeblich. Der Film schließt an, wo er begonnen hat: Die jüdi­schen Männer, Frauen, Kinder besteigen den Zug. Der Resignation des Zuschau­ers entgegen arbeitet die Empfehlung im Nachspann, zu desertieren wie Walter und sich den bulgarischen Widerstandskämpfern anzuschließen. Das war der „durchwegs übliche Grundtenor in ostdeutschen Filmen zum ‚antifaschisti­schen Widerstand‘ und zum Zweiten Weltkrieg. Sternebricht derart konsequent mit dem pathetischen Kanon der allermeisten Filme dieses Themenkreises, dass die weni­gen Schwachpunkte kaum ins Gewicht fallen“49. Sterne wurde im Mai 1959 nach Cannes eingeladen – als bulgarischer Beitrag, worüber die Bundesre­gierung in Aufregung geriet, denn einen „SBZ“-Wettbewerbsbeitrag hätte sie auf Grund ihres Alleinvertretungsanspruchs verhindern können – und erhielt dort den Spezi­alpreis der Jury. Die westdeutsche Filmbewertungsstelle FBW erteilte ihm das Prädikat „wertvoll“. In der BRD urteilte der Filmkritiker Ulrich Gregor über Kon­rad Wolf, er habe den Mut bewiesen, „ein Thema aufzugreifen, das – gemes­sen an der sonstigen ost- und westdeutschen Kinoproduktion – abseits vom Wege lag, aber die heikelsten Fragen der deutschen Gegenwart anging“.50 .

Revision eines Erinnerungsträgers: „Professor Mamlock“

Filmemacher wissen (worauf Schriftsteller sich nicht verlassen können), dass ihre Werke der Nachwelt erhalten bleiben und nicht nur als Zeitdokumente, sondern auch als Belege ihrer Rolle in der nationalen Kulturgeschichte. Nach Sterne drehte Konrad Wolf 1961 ein Remake der ersten Verfilmung des Dra­mas „Professor Mamlock“ seines 1953 verstorbenen Vaters Friedrich Wolf offen­bar aus dem Be­dürfnis heraus, nicht nur den Filminhalt, sondern auch die Identifi­zierung seines Vaters mit einem Propagandawerk zu korrigieren, das ihm zuge­schrieben wurde, obwohl es sein gleichnamiges Theaterstück bis zur Unkenntlich­keit verfälscht wiedergab. Der Arzt Dr. Friedrich Wolf (geb. 1907) hatte neben Beruf und Parteiarbeit mehrere klassenkämp­ferische Thea­terstücke geschrieben. Das Dra­ma „Professor Mamlock“, in dem er die Vertreibung eines jüdischen Chirurgen aus seinem Be­ruf und seinem bürger­lichen Leben durch den Straßenmob der SA schildert, entstand unmittelbar nach der Machtergreifung, wurde 1934 in War­schau in Jid­disch uraufgeführt und 1938 von dem Österreicher Herbert Rappaport, den Len­fil‘m in Leningrad engagierte, verfilmt. Friedrich Wolf war in dem Drehbuchautor­en-Team (mit Adol‘f Minkin und Herbert Rappaport) in der Min­derheit. 51 Die Handlung weicht stark von der Thea­ter-Vorlage ab, die das Schick­sal eines assimilierten jüdischen Intellektuellen schildert, der die Welt nicht mehr be­greift und aus Verzweiflung Selbstmord begeht. Zum einen schiebt sich die Figur des Sohnes Rolf, der in der Arbei­terbewegung engagiert ist, in den Vor­dergrund, und an die Stelle des bürgerlichen Bildungmilieus treten Agitation und Straßenkampf. Zum anderen ist die Figur des desorientierten Professor Mamlock nicht wiederzuerken­nen. Hatte Friedrich Wolf an diesem Beispiel die persönliche Tra­gödie zu schil­dern versucht, die für die deutschen Ju­den der plötzliche Verlust ih­rer Stellung in der Gesellschaft, ihres Berufes, ihres Zuhauses bedeutete, so zeigt Rappaports Film Professor Mamlock als „lernfähig“ im kommunistischen Sinn: Als der Selbstmordversuch misslingt, „wechselt [er] quasi auf die Seite seines Sohnes“52 und schließt sich ak­tiv dem Wi­derstand an. Dass dieser Film, der schon vor dem Holocaust das private jüdische Schicksal für nebensächlich und die Partei für die Hauptsache erklärt, ab 1938 mit großem Erfolg in der Sowjetunion lief, verhinder­te nicht, dass er dort im Sommer 1939 wieder aus den Kinos ver­schwand: „Das antifaschistische Agitati­onsstück passte nicht zum eben geschlosse­nen deutsch-so­wjetischen Angriffs­pakt“53. 1941, nach dem Überfall auf die So­wjetunion, wurde es folgerichtig wieder freigege­ben.

Seines Vaters Psycho-Drama „Professor Mamlock“ als Agitprop-Kino ­- dabei wollte es Konrad Wolf nicht belassen. Friedrich Wolf starb 1953 (im gleichen Jahr wie Sta­lin). 1961 – der Beginn des Eichmann-Prozesses in Jerusalem im Februar markiert die Wende, das jüdische Thema wurde nun auch in der DDR enttabui­siert – drehte Konrad Wolf ein Re­make des „Professor Mamlock“, was er, nach seinen Motiven befragt, im Fil­mentwurf ausführlich begründet: „Bei der Beantwortung dieser Frage gehen wir nicht allein von der momentanen Aktualität des antisemitischen Problems aus, sondern in erster Linie von der politisch und künstlerisch außergewöhnlich stark gestalteten Tragödie eines liberal-bürgerlichen Intellektuellen, der mit seiner Ge­sellschaftsordnung und Klasse in Konflikt gerät. Der Konflikt ist nur zu lösen, in­dem er zur Arbeiterklasse stößt. Die persönliche Tragik liegt darin, daß er es zu spät erkennt“.54 Konrad Wolf bestreitet, dass Mam­locks Judentum das Problem ist. Es ist seine Bürgerlichkeit. „Er ist ein Typus deutscher Intelligenzler, für den der ‚Staat‘ etwas Absolutes, Unwandelbares, Heiliges ist. Aber nicht bloß der Staat, auch die Familie, die Wissenschaft, die Ge­rechtigkeit sind für ihn unwan­delbare, ewige Werte, sind abstrakte Kategorien im Sinne Kants. […] Auf die Ak­tualität des Stoffes wurde schon hingewiesen. Wir meinen, dass gerade in unseren Tagen in unserem Kampf um die Lösung der natio­nalen Frage eines wichtig ist: die Entlarvung der bürgerlichen Scheindemo­kratie“.55 Es geht gegen die Bundes­republik, aber nicht im antifaschistischen Di­rektangriff, sondern systemanalytisch. Die Bourgeoisie mit ihrer Verbindung zum Kapital impliziere faschistische Tendenzen. Das Remake sollte in Erinnerung ru­fen, was Friedrich Wolf schon 1934 erkannt habe.

Der Eichmann-Prozess im Frühjahr 1961 wirkte wie eine plötzlich ge­öffnete Schleuse für einen Strom kritischer Fragen. Das jüdische Thema geriet wieder in den öffentlichen Diskurs. In der Bundesrepublik trat die Wende mit dem Auschwitz-Prozess ein, den der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer fast im Alleingang durchsetzte. Er dauerte vom 20. Dezember 1963 bis zum 20. August 1965 und hebelte die Holocaust-Verleugnung in beiden Teilen Deutschlands aus. Am 9. August 1965, zwölf Tage vor der Urteilsverkündung im Auschwitzprozeß, begannen die Dreharbeiten zu Artur Brauners Film Zeugin aus der Hölle, der zu den wenigen Spielfilmen aus der BRD gehört, „in denen der Holocaust als ein Problem der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Erscheinung tritt“56. Die Ge­schichte der Lea Weiss, die der Film erzählt, knüpft an eine Zeugenaussage im Auschwitzprozess an. Dort belastete eine Dunja Wasserström den Angeklagten Boger, für den sie als Dolmetscherin gearbeitet hat. Es gibt darüber hinaus keine Parallelen zwischen dieser Zeugenaussage und der Figur Lea Weiss, außer dass beide über ihre Erlebnisse jahrzehntelang schwiegen. Zentrales Thema des Films ist die Zumutung für die Zeugen, sich an etwas erinnern zu müssen, das sie ver­drängt haben, damit sie weiterleben können, und die ständigen Zweifel der Staats­anwälte und Richter, ob sie nicht bei der Schilderung des Unvorstellbaren „über­treiben“.

Die Handlung: Lea Weiss, mit 16 ins KZ Struthof (fiktiv) eingeliefert, hat den Krieg überlebt und ihre Leidensgeschichte einem ihr nahestehenden Journalisten erzählt, der ein Buch daraus gemacht hat. Auf diese Veröffentlichung stützt sich die Staatsanwaltschaft in Ludwigsburg bei ihrer Anklageerhebung gegen den La­gerarzt Dr. Becker. Allerdings hat Lea Weiss, die als Kronzeugin auftreten soll, die Behauptungen, die den Arzt belasten, inzwischen widerrufen und weigert sich, vor Gericht gegen ihn auszusagen. Der Ludwigsburger Ankläger stöbert – damit beginnt der Film – den Journalisten auf, der in einem Zeitungsverlag arbeitet, und bittet ihn, auf Lea einzuwirken, damit sie aussagt. Der Staatsanwalt Hoffmann (den Heinz Drache spielt) und der Biograf Bora (Daniel Gelin) finden die junge Frau in einem komfortablen Hotel, wo sie ihrem Liebhaber einen Scheck für den Handel mit amerikanischen Autos ausschreibt; das heißt also, sie hat Geld. Das Hotel-Milieu, in dem Zeugin aus der Hölle spielt, soll offenbar das zu Wohlstand gekommene Deutschland der 60er Jahre zeigen. Ein Anruf, den eine unheilver­kündende Fanfare unterstreicht, versetzt sie offenbar in Panik, sie antwortet, als ob sie eine Anweisung befolge und erklärt, dass sie sofort aufbrechen müsse. Bora findet ihre neue Adresse heraus. Es ist eine Berliner Villa im Gründerzeitstil, mit einer „gnädigen Frau“, die Zimmer vermietet. Lea legt hier bei ausgesperrtem Ta­geslicht einsame Patiencen. Warum will Lea plötzlich nicht mehr aussagen? Sie erklärt Bora, sie wolle sich das Grauenvolle, das hinter ihr liegt, nicht wieder in Erinnerung rufen müssen. Die Bilder aus Leas Träumen – KZ-Häftlinge in ge­streiften Uniformen evaporieren aus dem gestreiften Stoff der eleganten Sitzgruppe, eine Leiche wird in einer Schubkarre über die Perserteppiche geschoben, ein Schuss fällt und ein Häftling kippt nach vorn aus dem Sessel – wirken eher gro­tesk. Bora vermutet, dass etwas anderes hinter Leas Weigerung steckt. Jemand finanziert offen­bar ihren aufwendigen Lebensstil. Der Financier, stellt sich heraus, ist Bergers An­walt. Leas Aussageverweigerung ist erkauft. Das mindert ihre Glaubwürdigkeit in den Augen des Zuschauers. Dahinter steckt jedoch mehr: Lea hat Angst. Es stellt sich heraus, dass sie in anonymen Briefen und Anrufen ständig rassistisch beschimpft und für den Fall, dass sie gegen Dr. Berger aussagt, mit ihrer Ermor­dung bedroht wird. Sie kehrt in das Hotel zurück. Als eine ausgelassene Bande Ju­gendlicher, die bei ihrer Nachbarin eine Party feiern wollen, versehent­lich vor ihrer Hotelzimmertür randalieren und Zutritt verlangen, springt sie aus dem Fenster.

Brauner, der mit Unterhaltungsfilmen gut im Geschäft war, glaubte zu wissen, wie er sein Publikum in diesen Film würde locken können. Er arbeitete selbst am Drehbuch mit. Was dabei heraus kam, war eine Mischung aus Melodram und Kri­mi. Zudem war der Staatsanwalt mit dem seinerzeit meist in Krimies als Kommissar auftretenden Heinz Drache besetzt. Irene Papas in der Hauptrolle war eine qualifizierte, aber zu melodramatisch agierende Besetzung aus dem Mittel­meerraum: eine Frau mit (zu) starken Gefühlen. Der Film ist voller Milieu- und Per­sonenklischees und handwerklich mittelmäßig. Seine Stärke: „Klare Worte, wie sie in dieser Deutlichkeit im bundesdeutschen Film bis dahin nie ausgesprochen worden waren. Der Film benennt die Schrecken von einst: die Judenverfolgung in Deutschland, den Gastod, das Krematorium, die Experimente an den Häftlingen, das Lagerbordell, die Bedingungen des Überlebens. Und die Schrecken von jetzt: hörbar in den rassistischen Hetztiraden, den Drohungen, den selbstgerechten Ent­schuldigungen, den Lügen und Verleumdungen […] Und er macht […] tatsächlich die Situation der Zeugen begreifbar, die in ihre Erinnerungen zurückgezwungen und dadurch erneut mehr zu Opfern als zu Anklägern werden. Dieses bewusste Aussprechen der Gräuel aus Vergangenheit und Gegenwart lässt den Film heute als ein außergewöhnliches Zeitdokument erscheinen“57.“ Nicht das Bild beglau­bigt die Relevanz des Erinnerungsträgers, sondern der Dialog. Man kann das auch symbolisch interpretieren. Die Bilder zeigen eine scheinbar heile Nachkriegswelt; der Dialog entlarvt sie als Lüge.

Unter die Argumente, mit denen die FBW den Antrag auf Prädikatisierung zurück­wies, zählte auch die Direktheit der Sprache. „Im Dialog macht sich eine gewisse Sucht bemerkbar, möglichst alles, was an Verbrechen in den Konzentrationsla­gern vorgekommen ist, in diese eine Geschichte hineinzupacken58“. In der Kritik des FBW-Hauptausschusses – Brauner hatte Widerspruch eingelegt – verrät sich das Ausgrenzungsverhalten der deutschen Kulturvertreter gegenüber den Juden noch detaillierter. Zum Beispiel in der Frage, wieso Lea Weiss über­haupt in Deutschland lebt, wo sie verfolgt und bedroht wird. Protokolliert ist das Argument: Warum entziehe sie sich nicht den Drohungen, „nachdem sie Entschädigung erhalten hat?“ 59 Der Film, der erst 1967 einen Verleih fand und kaum etwas einspielte, war ein bitterer finanzieller Verlust für den Produzenten und ein uneinholbares Versäumnis für den deutschen Holocaust-Diskurs.

Fazit

Das Medium Spielfilm eignet sich vorzüglich, um unbewusste Reaktionen abzuru­fen, die in den Diskurs eingehen – denn ein Kinobesuch ist ein Ereignis, das kommunikative Erinnerung schafft; beziehungsweise bewirkt das der Film, den man gemeinsam ansieht. Am Thema des Films (der immer für Zuschauer produziert wird, die eine Kinokarte kaufen sollen), kann man den Zeitgeist ablesen; an seiner Akzeptanz kann man ablesen, ob er ins Schwarze trifft, oder daneben. Dass der Zweite Weltkrieg nicht in erster Linie ein Krieg um Land und Ressourcen war, sondern ein Feldzug zur Vernichtung des verstreuten Volkes der Juden, und dass unleugbar wir, die Deutschen, die Realisie­rung dieser Massenmordpläne zu ihrem nationalen Anliegen machten, war seit den Nürnberger Prozes­sen nicht mehr zu leugnen. Diese Hausarbeit ist der Frage nachgegangen, ob und wie der Holocaust aus der kollektiven Erfahrung der niederschmetternden Prozessberichterstatt­ung Eingang in einen längerfristig verfügbaren „kollektiven Erinne­rungsträger“ wie den Spielfilm gefunden hat. Nach der Teilung des Landes gab es die Deutschen als Kollektiv immer noch, und die Schuld lastete auf den ei­nen wie den anderen, aber sie wurden in inkongruente Gesellschaftssysteme eingebun­den und entwickelten im Umgang mit dem Holocaust unterschiedliche Strategien der Erinnerungsbewältigung. Wie sich gezeigt hat, handelte es sich letzten Endes um Varianten des Verdrängens; im Osten unter dem Vorzeichen, dass alle „Faschisten“ nach Westdeutschland gegangen seien, das sorgfältig auf den zu erwartenden Rückfall hin beobachtet werden müsse; im Westen als Reni­tenz und Ressentiment der Tätergeneration, die sich mit vereinten Kräften der „Siegerjustiz“ der Besatzungsmächte entzog, um sich in einem Klima der Restau­ration neu zu sammeln und zur Verbreitung einer historischen Fälschung zu verabreden. Weder im Osten noch im Westen wurden den Opfern – eini­ge sind ja zurückgekehrt – die Wiedereingliederung in die Gesellschaft leicht ge­macht. Was den Holocaust als Filmthema betrifft, so sind in der DDR, wo sich zum Judentum zu bekennen zeitweise politisch hochriskant war, und wo nur prominente Remigranten wie Friedrich und Konrad Wolf sich der jüdischen Frage als Teil der deutschen Erinnerungskultur zu stellen wagten, vielleicht deshalb in den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende auch die ehrlicheren Filme zum Thema Holocaust entstanden.

1 Maurice Halbwachs (1985): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt.

2 Aleida Assmann (2006): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ge­dächtnisses. München. S. 19.

3 Ebd.

4 Norbert Frei (2005): 1945 und wir. Verweis auf den Bericht über die Drei-Mächte-Konfe­renz von Potsdam, 2.8.1945, deutsche Fassung, in: Doku­mente zur Deutschlandpolitik. II.Rei­he, Band I. Die Konferenz von Potsdam, Neuwied/Frank­furt am Main 1992, S. 2105 ff.

5 http:www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/318965/nuernberger-prozesse. Letzter Abruf 15.3.2021.

6 Aleida Assmann:  Ebd.

7 Nazi Concentration Camps. Dokumentation. Regie: George Stevens.

https://www.imdb.com/title/tt0247568. Letzter Abruf 20.03.2021

8 Lilja Antipow (2011): Verlust des Bildes. In: Lilia Antipow/Jörn Petrick/Matthias Dornhuber (Hg.): Glücksuchende? Conditio Judaica im sowjetischen Film. Würzburg. S.216.

9 Ebd. S.228.

10 Ebd.S. 217.

11 Die russischen Militärkameraleute.

12 Ebd. S.228.

13 Ebd. S.227.

14 Ebd.

15Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, in der Bundesregierung engster Mitarbeiter von Bundeskanzler Adenauer, vermutlich auf der Basis des geteilten rheinisch-ka­tholischen Milieus. In der DDR wegen Rassismus verurteilt und im In- und Ausland mit Skep­sis zur Kenntnis genommen.

16 Karrierist in unterschiedlichen parteilichen und militärischen Milieus während des Krieges. Leitete unter Adenauer das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschä­digte, trat aber zugleich für die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 ein. In der DDR wegen (unbewiesener) Kriegsverbrechen verurteilt.

17 Ingo Müller (1995): Der Nürnberger Prozeß. Die Anklagereden des Hauptanklagevertreters der Vereinigten Staaten von Amerika Robert H. Jackson. Weinheim. S.3.

18 Ebd. S. 6.

19 Frei (2005): S. 146.

20 Ebd.

21 Ebd.

22 Am 17. Mai 1946 wurde in Potsdam-Babelsberg  die Deutsche Film-AG (DEFA) gegründet.

23 Sowjetische Militäradministration in Deutsch­land.

24 Oberst Tulpanow bei der Eröffnungsfeier. Quelle: „Der Augenzeuge“ (Wochenschau) vom Mai 1946. https://www.defa-stiftung.de/filme/filmsuche/der-augenzeuge-194608. Letzter Aufruf: 20.3.2021.

25 Sowjetische Militäradministration in Deutschland.

26 Die Mörder sind unter uns. Regie: Wolfgang Staudte. Drehbuch: Wolfgang Staudte. Deutsch­land (SBZ). DEFA. Spielfilm.dvd. sw. 87 Min.

27 Vgl. Norbert Frei (2005): 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München. S. 69.

28 Ronald Friedmann (2016): „In den Westzonen wurde »Die Mörder sind unter uns« erstmals am 10. April 1947 in Baden-Ba­den gezeigt – im März 1947 hatte die französische Militärzensur den Streif en für ihre Besat­zungszone zugelassen. Die Freigabe für die US-amerikanische und die britische Besatzungs­zone erfolgte erst im Juni 1948. Der Film wurde damals nur in Bo­chum gezeigt, entsprechend gering war die Resonanz in der Öffentlichkeit. Im westdeutschen Fernsehen wurde »Die Mör­der sind unter uns« erstmals am 18. Dezember 1971 gesendet. Das Fernsehen der DDR, da­mals noch Deutscher Fernsehfunk, hatte den Film bereits am 1. No­vember 1955 im Rahmen seines offiziellen Versuchsprogramms erstmals ausgestrahlt. Auch im Ausland gab es großes Interesse an dem ersten deutschen Nachkriegsfilm. »Die Mörder sind unter uns« wurde in mehr als zwanzig Ländern gezeigt. In: https://www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2016/die-moerder-sind-unter-uns/Letzter Aufruf 6.3.2021.

29 Ehe im Schatten. Regie: Kurt Maetzig. Drehbuch: Kurt Maetzig. Deutschland SBZ 1947. DEFA-Studio für Spielfilme. sw. 104 min.

30 Lang ist der Weg (Regie: Herbert B. Fredersdorf und Marek Goldstein. Drehbuch: Karl Georg Külb und Israel Beker. P:Internationale Film Organisation GmbH (IFO.) Film. sw. Jiddisch. West­deutschland 1948. 78 min. DVD.

31 Morituri (Regie:Eugen York. Drehbuch: Gustav Kampendonk nach einer Idee von Artur Brau­ner; D: Produktion Artur Brauner für CCC 1948. sw).

32 Claudia Bruns/Asal Dardan/Annette Dietrich (Hg.) (2012): „Welchen der Steine du hebst“. Zur filmischen Erinnerung an den Holocaust. S. 22 f.

33 Frei (2005): S.70.

34 Ebd.

35 Ulrich Herbert; Olaf Groehler (1992): Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten. Köln. S.10 f.

36 Der Ruf. Regie: Josef von Baky. Drehbuch: Fritz Kortner. Produktion: Objectiv. 1949, Mün­chen. 104 Min. sw.

37 Tim Gallwitz (2001): „Was vergangen ist, muss vorbei sein“. In: Deutsches Filminstitut DIF (Hg.): Die Vergangenheit in der Gegenwart. Cinematographie des Holocaust. Konfrontationen mit den Folgen des Holocaust im deutschen Nachkriegsfilm. Frankfurt am Main, S. 13f.

38 Film-Echo, Nr. 18, 20.6.1949, S. 246. Zitiert in: Tim Gallwitz (2001): S.15.

39 Olaf Groehler; Ulrich Herbert (1992) S.47/8

40 Ebd. S.42.

41 Ebd. S.47.

42Der Rat der Götter. Regie: Kurt Maetzig. Drehbuch: Friedrich Wolf und Philipp Gecht. DDR. DEFA Potsdam-Babelsberg. 1950. DVD. sw. 111 Minuten.

43 Timm Gallwitz (2001); Ebd., S. 18.

44 Ebd.

45 Frei, Norbert (2005),S. 76

46 Sterne. (Regie: Konrad Wolf. Drehbuch: Angel Wagenstein. DDR/Bulgarien 1959. DEFA-Studio für Spielfilme und Studio für Spielfilme, Sofia. sw. 92 Min.

47 Vgl. Claus Löser (2012): Liebe und Schuld im Zeichen des Holocaust, in: Claudia Bruns/Asal Dar­dan/Annette Dietrich : „Welchen der Steine du hebst“.S.309-320.

48 Die DEFA-Filme wurden fast ausschließlich in den Babelsberger Studios gedreht. Außenauf­nahmen waren nicht nur aus finanziellen, sondern vor allem aus ideologischen Gründen uner­wünscht. Szenische Authentizität wurde denunziert als „spätbürgerliche Tendenz“ und „Neorea­lismus“. Vgl. Claus Löser (2012), S.315.

49 Ebd. S.313.

50 Gregor, Ulrich „STERNE“,in: Filmkritik Nr 6, 1960. (Filmkritik war eine deutsche Filmzeit­schrift, die von 1957 bis 1984 erschien). Zitiert in: Claus Löser (2012) S. 317 .

51 Horn, Mikosch (2011): Die zwei Gesichter des Professor Mamlock. In: Antipow, Lilia /Pe­trick, Jörn/Dornhuber Matthias (Hg.): Glücksuchende? Conditio Judaica im sowjetischen Film. Würzburg, S. 199–212.

52 Ebd. S. 202.

53 Ebd. S. 204.

54Karl Georg Egel/Konrad Wolf (1960): Professor Mamlock von Friedrich Wolf – Handlungs­aufriss (Fahrplan) für den Film, Berlin, Kopie in Konrad Wolf Archiv, Berlin, Sig. 444. – Zi­tiert bei Mikosch (2011), S. 205.

55 Ebd.

56 Ronny Loewy (2001): Zeugin aus der Hölle und die Wirklichkeit des Auschwitz-Prozesses. In: DIF (Hg).:Die Vergangenheit in der Gegenwart. S. 26-28. Hier S. 26.

57Claudia Dillmann: Zu bittere Kräuter: Zeugin aus der Hölle, in: Deutsches Filminstitut (Hg.) (2001): Die Vergangenheit in der Gegenwart. S.29-35. Hier S.32.

58 Ebd. S. 33.

59 Ebd.

Die Kunst der Montage

David J. Rauschning, DIE KUNST DER AUSLASSUNG: Montage im szenischen Film, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz und München 2014

Ein Cutter/Editor mag in der Branche noch so gefragt sein, seine Chance auf Popularität ist gering. Die Teamarbeit an einem Film ist insofern undankbar, als der Regisseur das Repräsentationsmonopol besitzt; der Film gilt als sein Werk. So viel virtuoses Handwerk auch in ihm steckt – bemerkt wird nur, was die Bilder zeigen. Was sie nicht zeigen, kann erwartungsgemäß kein Thema sein. Oder doch? Der Filmschnitt galt lange Zeit als umso perfekter, je weniger der Zuschauer ihn bemerkt. Gegen diese Continuity-Konvention (die freilich schon von Godards jump cuts aufgebrochen wurde) wendet sich David J. Rauschning, ein erfolgreicher junger Filmeditor, in einem sehr klugen und kenntnisreichen Essay über „Die Kunst der Auslassung“. Mit seiner Motivation hält er nicht hinter dem Berg: Er will erreichen, dass die Arbeit des Cutters/Editors als eigenständige Leistung gewürdigt wird. Er reklamiert eine „Autorenschaft der Montage“. Zwar „als Ergebnis eines konstruktiven Prozesses zwischen Editor und Regie“ (was sie schon immer war), letztlich aber als „sichtbare Handschrift einer montierenden Instanz“.

Jedes Handwerk hat seine Regeln und seine Philosophie. Die vom Autor versprochene „Versprachlichung der Mittel einer Montage“ resultiert in einem kritischen Regelwerk, dessen Lektüre jedem Profi zu empfehlen ist, denn es geht nicht nur um die intelligente Anwendung spezieller Schnitte (frame cut oder free frame cut? Dip to black oder dip to white?), um die Wahl von cues, die Funktion von bracket sequences etc. Der ausdifferenzierte Begriffskatalog ist anschaulich mit Beispielen aus der Praxis belegt. Rauschning widmet ihn ausdrücklich denjenigen, die am Prozess der Filmmontage beteiligt sind. Er wünscht sich im Schneideraum Verständigung auf Augenhöhe, was das Vokabular betrifft, aber auch in puncto Philosophie. Dies nun ist der interessanteste Aspekt des durchwegs spannenden Essays. Aus der Sprachwissenschaft bezieht der Autor die Definition der Ellipse als Unvollständigkeit eines Satzes, den der Leser unwillkürlich ergänzt. Im Film, der ein narratives Genre ist, wird eine fragmentarische Szene ebenfalls vom Zuschauer im Geist vervollständigt, vorausgesetzt, ihm wurden zuvor Anhaltspunkte geliefert. Ziel dieser Kürzungen ist die Zeitökonomie. Ein Film komprimiert in seiner Erzählzeit mehr oder weniger erzählte Zeit. Die Aufgabe des Editors ist es, zu bewirken, dass die Narration für den Zuschauer gleichzeitig durchsichtig und unvorhersehbar bleibt.

Rauschning weist nun darauf hin, dass die Sehgewohnheiten sich ändern. Das „klassische Kontinuitätskino“ erscheint altbacken. Der Zuschauer hat sich an jump cuts und bracket sequences gewöhnt. Mit dem Lebensrhythmus hat sich seine Aufnahmefähigkeit beschleunigt. Um beispielsweise zu zeigen, dass jemand den Kontinent wechselt, bedarf es nicht mehr der Bilder vom Passieren des Gates und dem Abheben des Flugzeugs; der Protagonist kann mit einem harten Schnitt in die Straßen von New York oder Shanghai versetzt werden. (Allerdings ist auch das eine Bedienung von Klischees). Solche Auslassungen, meint Rauschning, könnten die Aufmerksamkeit des Zuschauers nur steigern. Das genügt aber noch nicht, um sich als Editor zu profilieren. Um Unverwechselbarkeit herzustellen, schlägt er vor, den Schnitt als Mittel der Dramaturgie einzusetzen („tektonische Auslassung“) und die Kontinuität der Narration durch Diskontinuität zu ersetzen – also durch Schnitte, die Rätsel aufgeben: Teile der Handlung vorwegnehmen oder überspringen und nachliefern. Kühnheit und Kalkulation der Montage würden dann die „sichtbare Handschrift einer montierenden Instanz“ ausmachen. Doch würde das etwas daran ändern, dass der Regisseur die künstlerische Verantwortung trägt? Filmarbeit wird Teamarbeit bleiben. – Die Lektüre dieser perfekt formulierten und reizvoll gestalteten Broschüre wird jedenfalls jedem Gewinn bringen, der Filme macht oder über das Filmemachen nachdenkt.

Wie man mit wenig Geld HD wie Film aussehen lässt

Ein Vortrag im Rahmen der „Beyond Hands on HD“-Tagung am 11./12. Juli in Hannover hob sich (für mich wohltuend) gegen den Mainstream der Ultra-Perfektionisten ab: Peter Slansky referierte über „Look-Kreation durch Optikwahl“. Während „High Resolution, High Frame Rate, High Density“ als Wege zur „ultimativen Bildqualität“ ausgelotet wurden, sprach er über die kleinen Unvollkommenheiten, die einen Film erst interessant machen.
Er brachte das Problem des digitalen Kinos auf den Punkt: es ist zu perfekt.

(Übrigens nicht nur das Kino. Auch auf Werbeplakaten taucheninzwischen „schmutzige“, bekleckste, schlierige Bilder aus dem Tools-Pool der Fotobearbeitung auf, die als Provokation der Sehgewohnheiten gedacht sind, darüber hinaus aber genau diese Botschaft transportieren: dass die gepixelte Oberfläche nicht immer das ist, was wir sehen wollen). Der „Look“ eines Films, die „Bildanmutung“ – was ist das? So etwas wie eine unverwechselbare Stimmung, ein optischer Stil. Es sind hauptsächlich die Lichtsetzung am Drehort und die Kameraführung, die den „look“ vereinheitlichen, wenn nicht schon die Farbe leitmotivisch verwendet wird, wie z.B. in den Filmen der Coen Brothers (Rot in „Blood Simple“, Weiß in „Fargo“). Die von der Kamera eingefangenen Farben wirken aber auf Filmmaterial ganz anders als auf HD. Peter Slansky zeigt, wieso: Der Film hat mehrere Schichten von insgesamt 25μm, die das Licht durchdringt, indem es streut und reflektiert. Der Lichtpunkt ist umgeben von einem Halo, der ihn um einige Schattierungen reicher macht. Der Sensor hingegen besteht aus 0,1μm dünnem kompaktem Silicium, den der Lichtstrahl senkrecht, quasi prosaisch, durchbohrt. Den flachen Pixeln fehlen die stimmungsproduzierenden Nuancen.

Abhilfe schaffen optische Filter, die jedoch große Nachteile haben: Schärfeverlust, Doppelreflexionen, Abhängigkeit der Wirkung von Brennweite, Blende, Licht – die kurz gesagt etwas unberechenbar sind, ganz abgesehen von ihrem Preis. Peter Slansky hat einen besseren Vorschlag, der auch Filmemachern mit kleinem Budget entgegenkommt. Er regt an, ausgemusterte Objektive zu sammeln, die man mit einigem Geschick vor die digitalen Kameras setzen könne. Denn auch alte Objektive haben Fehler – die sich in solchen Fällen jedoch in ihr produktives Gegenteil verwandeln. Sie „leiden“ zum Beispiel unter chromatischen und sphärischen Aberrationen, Astigmatismus, Lichtabfall zum Bildrand, optischer Verzeichnung, Streulicht, Lens-Flares und können in den richtigen Händen sogar mit Pixeln Bilder produzieren, die einen „look“ haben: Weichzeichnereffekte, Blendendifferenzen, geheimnisvolle Reflexe und Gegenlichtstreuungen…

Solche Objektive gibt es übrigens auf den Flohmärkten.

Vorsicht: Bilder! „Kriegerin“

Es ist eine Frage der Erfahrung. Gleichzeitig mit dem Lesen lernen wir, die Wörter zu interpretieren. Was meint die Rede, was bedeutet der Text? Kommunikation wäre unmöglich, wenn man darüber keine Einigkeit herstellen könnte.

Doch gilt das auch für Bilder? Abgesehen davon, dass wir die Sprache brauchen, um uns darüber zu verständigen, was sie erzählen, ist ihre Bedeutung weitaus offener als die von Wörtern. Kann ihre Vieldeutigkeit nicht sogar so weit reichen, dass die einen sich von den gleichen Bildern abgestoßen fühlen, die auf die anderen anziehend wirken?

Ein Filmstoff wie „Kriegerin“ stellt den Regisseur vor die schwierige Aufgabe, ein Milieu zu zeigen, das auf den Zuschauer abstoßend wirken soll: Großmäulige Neonazis mit Ritualen, die so primitiv sind wie ihre Ansichten. Sie terrorisieren Fahrgäste in einem Regionalzug, sie pöbeln Asylbewerber an, sie demütigen ihre Mädchen, sie saufen und grölen Nazilieder. Andererseits muss die Regie glaubhaft machen, warum diese Horde junger Männer für Marisa und Svenja, die beiden jungen Frauen, deren Leben wir eine Zeitlang beobachten, so unwiderstehlich ist. Eine Gratwanderung. Ist sie gelungen?

Der Film beginnt mit Wellenschlag am Ostseestrand und Marisas Stimme, die das Feld absteckt, auf dem das Übel wuchert: „Demokratie ist das Beste, was wir je auf deutschem Boden hatten. Wir sind alle gleich. Es gibt kein Oben und kein Unten. In einer Demokratie kann jeder mitbestimmen: Du, ich, Alkoholiker, Junkies, Kinderschänder, Neger, Leute, die zu blöd sind, ihren Hauptschulabschluss zu schaffen, Leute, denen ihr Land einfach egal ist, denen egal ist, wenn der Laden den Bach hinunter geht. Aber mir ist es nicht egal. Ich liebe mein Land“. Was ist das? Bekenntnis, trotz allem, zur Demokratie? Purer Hohn? Fest steht: Ein Neonazi könnte dieser Aussage vorbehaltlos zustimmen. Der Film wendet sich aber doch gegen den Rechtsradikalismus? Das ist die Krux mit der Doppeldeutigkeit. Ein Regisseur muss genau wissen, wie man auf Distanz zu dem geht, was man zeigt. Dieser Vorspann setzt ein falsches Signal. Hielte ein zynischer Funktionär, der Altnazi mit dem österreichischen Akzent zum Beispiel, eine solche Rede, wüsste der Zuschauer auf Anhieb, dass es sich um Polemik und Propaganda handelt. Die liebliche Stimme der noch nicht als „Kriegerin“ in Erscheinung getretenen Marisa verführt zur gefährlichen Identifikation mit dem Inhalt.

Das ist nicht die einzige Zweideutigkeit in diesem Film. Was zieht Mädchen wie sie und die 15-jährige Svenja zu der Gruppe junger Männer, die sich als Neonazis gebährden? Regisseur David Wnendt, der auch das Buch geschrieben hat, setzt auf Milieuschäden. Ort der Handlung ist eine Kleinstadt „im Osten“, wo die Elterngeneration sich nach wie vor zum Sozialismus bekennt, die Großeltern gar zu noch Schlimmerem: dem Naziregime. Marisa wird von ihrem Großvater mit Härtetraining und Durchhalteparolen wie ein Junge erzogen und begegnet uns als aggressive „Nazibraut“, die sich am „Ausländerklatschen“ im Vorortzug beteiligt, sexuelle Initiativen ergreift, sich in Prügeleien einmischt und das Moped der afghanischen Brüder aus dem Asylbewerberheim, mit denen sie in Streit geraten ist, durch einen Schlenker ihres Autos von der Fahrbahn stößt – wahrhaftig kein Kavaliersdelikt. In der Bande junger Männer kann sie vor allem ihre Omnipotenzphantasien ausleben.

Aber sind diese jungen Leute wirklich politisch? Sie sind über und über mit Nazi-Tattoos bedeckt, sie tragen Klamotten mit einschlägigen Symbolen, sie grölen Nazi-Lieder und heben die Hand zum Hitlergruß. Wenn man von dieser karnevalesk übertriebenen Aufmachung absieht, unterscheiden sie sich jedoch nicht von den Zusammenrottungen anderer Halbwüchsiger, die Parties feiern, saufen, fluchen, sich herumbalgen. Gewiss: sie sind fies zu den Mädchen, beschimpfen sie ordinär, geben ihnen auch mal eins auf die Ohren – doch diese ganz gewöhnliche Gemeinheit hat noch keine demokratiegefährdende Dimension. Um einem jugendlichen Zuschauer in Pubertätsnöten die Lust zu nehmen, sich solchen großmäuligen, Stärke markierenden Individuen anzuschließen, müsste man doch etwas tiefer im Sumpf bohren. Stattdessen ein positives Signal – Marco, der Drogen verkaufen will, wird verprügelt und ‘rausgeworfen. Botschaft: Die Jungs sind sauber!

Gefährlicher daneben greift die Wahl des Nazi-Propagandafilms „Der ewige Jude“, der zu den schlimmsten gehört, die unter Goebbels’ Diktat entstanden sind. Unmittelbar nach dem Einmarsch in Polen drehten Mitarbeiter des Reichspropagandaministeriums Bilder im jüdischen Schlachthaus von Lodz, die keine Fälschungen waren, denn das in der Tat grausame Schächten war damals noch üblich; allerdings zwangen die Deutschen die jüdischen rituellen Schlächter vor der Kamera zu besonders widerwärtigen Gesten. Dieses Filmmaterial hat damals der Vorbereitung des Völkermords an den Juden gedient, die als Tierquäler dargestellt wurden, so dass dem Gedanken, diese Menschen dürften skrupellos getötet werden, Tür und Tor geöffnet wurden. Der Missgriff des Regisseurs David Wnendt, der ja zum Beispiel die propagandistische Verführung durch Hitlerreden und SS-Aufmärsche hätte zeigen können, besteht darin, dass er Material benutzt, das den Antisemitismus seinerzeit zu rechtfertigen schien und womöglich heute noch ähnliche Wirkungen zeitigt wie 1940.

Vorsicht vor den falschen Bildern. Vorsicht vor bestimmten Bildern an der falschen Stelle. Kurz bevor Marisa vor unseren Augen stirbt, zeigt eine Rückblende sie als Schulmädchen mit dem Großvater im Strandkorb, wo sie ihm erklärt, sie werde einen Vortrag vor der Klasse zum Dritten Reich halten. „Über deine Zeit: Hitler, Konzentrationslager. Wie schlimm das alles war“. Der Großvater, im Licht der Autorität, die das Mädchen ihm verleiht: “Da wird so viel erzählt über diese Zeit. Du musst dir überlegen, wem du glaubst. Sie sind mächtiger denn je, und sie sind immer noch dabei, ihre Lügen und ihr Gift zu verbreiten!“ Marisa: „Wer“? Großvater: „Die Juden“. Diese „Botschaft“ am Ende des Films ist fatal. Der Regisseur will vermutlich die Gesinnung des Großvaters denunzieren, doch inhaltlich gießt er Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus.

„Kriegerin“ ist wie ein Anagramm. Man kann den Film, je nach Standpunkt, positiv oder negativ lesen. Die Doppeldeutigkeit liegt schon in der Struktur. Oberflächlich betrachtet – das scheint die positive Botschaft zu sein – steigt Marisa am Schluss aus der Szene aus. Sie verhilft dem afghanischen Asylbewerber Rasul zur Flucht nach Schweden. Wer dies als eine Art Bekehrung interpretiert, könnte auf der falschen Fährte sein. Sie fühlt sich von Rasul erpresst, weil sie der Meinung ist, sein Bruder sei bei dem von ihr verursachten Unfall umgekommen. Der sterbende Großvater hat ihr zuletzt die Lehre erteilt, man müsse für seine Taten gerade stehen. Das betrachtet sie als sein Testament. Das Tattoo mit dem Porträt ihres Großvaters soll auf ihre linke Schulter kommen, das Hitlerbild auf ihre rechte. Dass Sandro sie ohrfeigt, weil sie sich in ihm in ihrer Trauer verweigert, ernüchtert sie. Dass er sich an ihrem Schützling Rasul vergreift, bringt sie in Rage. Sie schlägt in einer Art Amoklauf Sandro und andere mit einer Keule nieder. Nun bleibt ihr nur noch die Flucht. Rasul ist schon im Auto, Svenja wird hineingezerrt. Das Geld, das Svenja ihren Eltern gestohlen hat, um mit Marisa durchzubrennen, gibt sie an den Schlepper weiter, der Rasul nach Schweden bringt. Svenja kündigt sie an, dass sie sie nach Hause schicken wird, weil sie erst 15 ist. Einen Akt der Reife stellt dieses Verhalten nicht unbedingt dar. Marisa führt einfach durch, was sie sich vorgenommen hat. Mit anderen Worten: eine Szene- Aussteigerin aus moralischen Gründen ist sie nicht.

Da ist ihr letzter Satz, bevor Sandro sie niederschießt: Sie habe immer etwas tun, etwas bewirken, etwas ändern wollen. Dabei zerrinne einem das Leben zwischen den Fingern… Schnitt. Rückblende. Das Kind mit dem Großvater im Strandkorb. Der Großvater sagt: „Sie sind mächtiger denn je, und sie sind immer noch dabei, ihre Lügen und ihr Gift zu verbreiten!“ Dann stirbt Marisa. Wofür? (Vorsicht, Bildschnitt! Er stellt Bedeutungszuammenhänge her).

Svenja, die Ausreißerin, die sich von ihr verraten fühlte und Sandro auf ihre Spur gelenkt hat, nimmt im off, während die Ostseebrecher rauschen, das Eingangs-Motiv auf: „Demokratie ist das Beste, was wir je auf deutschem Boden hatten. Wir sind alle gleich. Es gibt kein Oben und kein Unten. Alles wird sich ändern“.

Was wird sich ändern bzw. nicht ändern? Und ist das gut oder schlecht für die Demokratie?

Kriegerin ist ein deutscher Spielfilm von Regisseur David Wnendt über die Neonazi-Szene in Deutschland. Er wurde beim Filmfest München 2011 uraufgeführt. Der Kinostart in Deutschland war am 19. Januar 2012.

Schule und Film: Brauchen wir Filmpädagogen?

Überlegungen nach einem Gespräch mit Detlef Endeward, NLQ

„Filmbildung“ ist jetzt Prüfungsthema. Die niedersächsischen Abiturienten des Jahrgangs 2012 werden sich im Fach Deutsch mit einer Prüfungsfrage aus dem Rahmenthema 7 „Filmisches Erzählen“ konfrontiert sehen. Vorher werden sie ein halbes Jahr lang erarbeitet haben, was das Kerncurriculum für die Qualifikationsphase (Klassen 11- 12) vorschreibt: „Der Film als erzählendes Medium bildet – in Analogie zum literarischen Erzählen – den Schwerpunkt des Rahmenthemas und wird beispielhaft sowohl anhand ausgewählter aktueller Spielfilme als auch Spielfilme der Filmgeschichte erarbeitet. Im Pflichtmodul Schule und Film: Brauchen wir Filmpädagogen? weiterlesen