Der Roman Borysthenes – die Verarbeitung meiner Ukrainereise 2003 – entstand aus den Notizen einer Dnjepr-Kreuzfahrt und war als „Literarisches Drehbuch“ projektiert, sollte also als Beispiel für das Genre dienen, das ich in meinem Verlag produzieren wollte: Das narrative Filmdrehbuch als Scharnier zwischen Literatur und Film, das sich als eigenständiges Werk in den Bibliotheken behaupten kann. Ich wollte Beispiele der Literazität von Filmen finden und eventuell veröffentlichen, und gleichzeitig herausarbeiten, wie „wahr“ Filmbilder in philosophischer Hinsicht sind.
Borysthenes – Landschaft und Trauma: Die ukrainische Wunde
Neuauflage 2022 von Sybil Wagener
Verlag: Das literarische Drehbuch
Karl-Marx-Allee 141, 10243 Berlin
Tel. +49 (0) 179 531 0327
Mail: verlag@das-literarische-drehbuch.de
Ohne Kamera blieb mir für die Dokumentation der Schiffsreise nur das Werkzeug des Journals, in das ich tagsüber alles, was mir auffiel und begegnete, eintrug, um es abends zu rekapitulieren und zu kommentieren. Es stellte sich heraus, dass der Stoff in seiner Vielfalt auf diese Weise nicht zu bändigen war; die Zufälligkeit überforderte mich. Ein Film ist nichts weniger als zufällig. Die journalistischen Regeln verbieten es jedoch, Dialoge oder Begebenheiten zu erfinden. Ich schrieb in einem geistigen Spagat: einerseits als Journalistin, die zu unparteiischer Beobachtung verpflichtet ist, andererseits als Schriftstellerin, die das Erlebte interpretieren will: das augenscheinliche, das akustisch wahrgenommene, das (nach-)gefühlte, das erdachte, und – da es eine Gedenkreise war – das erinnerte Erlebnis.
Wirklich wohl beim Schreiben wurde mir erst, als ich den ganzen Text zu einer Fiktion (Roman) erklärt hatte, in der Bruchstücke von Wirklichkeit flottieren, die von Aussagesätzen getragen werden; damit wurde ich die Verantwortung für die 1:1-Übereinstimmung meiner Abbildung mit der Realität los. Die Passagen des Textes, die den Holocaust betreffen, sind freilich nicht fiktional, genauso wenig wie die Motivation der Kinder deutscher Kriegsteilnehmer, das Grab oder den Todesort des Vaters/ Großvaters/ Onkels aufzusuchen. In den Familiengeschichten ist mit dem II. Weltkrieg längst ein Mythos verbunden, der benennbar, aber nicht abbildbar ist.
Die Frage nach der „Wahrheit“ von Filmbildern, deren Scenario zwangsläufig manipuliert ist, und sei es allein durch den Bildausschnitt, wird derzeit von einem weitaus brisanteren Thema verdrängt: Werden Filmbilder in Zukunft immer noch eine erste Ebene von Wirklichkeit zeigen, oder werden montierte Zitate, „snippets“, eine Authentizität vortäuschen, die unsere Idee von Wirklichkeit gleichzeitig mit dem Begriff abschafft?
Bei der Frage nach der Literarizität eines Films, ob Spiel- oder Dokumentarfilm, geht es nicht um das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion (ob etwas so dargestellt wird, wie es tatsächlich war), sondern um die Form. So wie es einen Formenkanon für Prosa, Drama und Epik gibt, weisen auch Filme mehr oder weniger geschlossene Strukturen auf und liefern der Wissenschaft Bewertungsgrundlagen für den Kunstcharakter eines Mediums, das sehr lange nicht als „höheres“ Kulturgut eingeordnet, sondern als volkstümliches Spektakel ignoriert worden ist. Eine ganz andere Frage war immer die nach dem Wirklichkeitsgehalt eines Kunstwerks, wenn es menschliche Verhältnisse und Ereignisse thematisiert. Wenn es sich um ein „Fallbeispiel“ handelt, lautet die Frage: „War es wirklich so?“ Wenn der beschriebene Vorgang erfunden ist, wird die Frage nach dem Wahrheitsgehalt abgewandelt in: „Hätte es so sein können?“
Die 1:1-Abbildung wirklicher Aktionen im Dokumentarfilm verschärft diese Frage zu einem wissenschaftlichen, juristischen oder moralischen Anspruch, denn etwas, das wirklich war oder ist, gehört einer öffentlichen Kategorie an, während etwas Erfundenes Privatsache ist. Die Wirklichkeit tritt immer mit dem absoluten Wahrheitsanspruch auf. Dieses Postulat der „Echtheit“ kollidiert in unserer Zeit mehr und mehr mit der Anmaßung, Wahrheit vortäuschen zu dürfen. Die „wirkliche“ Wirklichkeit wird sich zwar letztlich behaupten, aber die Menschen werden sie nicht mehr auf Anhieb von medialer Täuschung unterscheiden können.
– // –
Das literarische Drehbuch
„Das literarische Drehbuch“ ist gleichzeitig Motto und Programm. Ein Drehbuch ist in der Regel Handlungsanweisung für die Herstellung eines Films und wandert danach ins Archiv. Doch gibt es auch Drehbücher, die alle Kriterien erfüllen, an denen ein Werk der Literatur gemessen wird. Unabhängig von ihrer Funktion, erschaffen sie eine einheitliche Welt aus Wörtern. In diesem Fall wird das Drehbuch zum Scharnier zwischen Literatur und Film; es kann sich auch unverfilmt als eigenständiges Werk behaupten. Hier setzt unser Programm an. Wir haben vor,
- Drehbücher vorzustellen, die literarische Werke sind.
- Literarische Texte abzudrucken, die auch Drehbücher sein könnten.
- In einzelnen Veröffentlichungen die Übergänge aufzuspüren: Vom Roman zum Drehbuch.
- Dem Verhältnis von Text und Bild in unseren Blog-Beiträgen nachzugehen.
Was ein literarisches Drehbuch ist – und was es nicht ist (2011)
Essay vom 23. März 2011 | Sybil Henning
Der Versuch Jürgen Kühnels*, das Filmdrehbuch neben dem Opernlibretto und dem Hörspiel als literarische Innovation freizustellen, überzeugt uns nicht. Beide sind Varianten der uralten literarischen Gattung Drama. Auch wenn ein Libretto ohne Musik und Sängerstimmen einen Sinn ergibt, bleibt es eine Opernvorlage, die der Inszenierung bedarf, um als Kunstwerk rezipiert zu werden. Ein gedrucktes Hörspiel mit pointierten Dialogen füllt seine Gattung dennoch erst als Klangereignis aus. Das gilt prinzipiell auch für das Schauspiel. Zwei Buchdeckel verleihen ihm das Äußere eines eigenständigen literarischen Werkes, aber es fehlt etwas. Anders als ein Prosatext oder ein Gedicht sind sie nicht das ganze Kunstwerk, sondern nur sein Fundament. Gewiss kann man Opernlibretto, Hörspiel, Schauspiel auch als Sprachkunstwerke lesen, doch erfasst man sie so nur rudimentär. Zur lebendigen Entfaltung aller ihrer Elemente bedürfen sie der Inszenierung.
Auch ein Hörspiel kann als Druck archiviert und prinzipiell neu inszeniert werden, doch unter dem Gesetz der technischen Reproduzierbarkeit wird es zur Konserve. Die Produktion ist längst mehr als Regie und Stimmeinsatz; sie erfolgt mit immer raffinierteren Techniken der Aufnahme, Vertonung und Wiedergabe, was dazu führt, dass sich Hörspieltext und –Realisierung kaum noch entkoppeln lassen. Noch entschiedener gilt das für den Film. Das Drehbuch ist ein sehr flüchtiges Genre. Es bringt etwas hervor, von dem sich, ist der Film einmal fertig, im Skript nur Spuren finden. Die Drehbuchproduktion ist zwar weitgehend standardisiert. Es gibt Regeln für den Aufbau mit Höhen- und Tiefpunkten, Anfang und Ende, Szenenfolge und Szenenlänge, die weitaus strenger sind als selbst die Doctrine Classique des 18. Jahrhunderts für das Drama. Erst wird die Szenenfolge entworfen, dann der Dialog eingefügt – das allein zeigt schon, dass die Sprache im Drehbuch nicht die Rolle spielt, die es als ein Werk der Literatur ausweisen könnte. Dennoch ist es mehr als eine Kladde.
Die Feststellung, dass Filmdrehbücher nichts als „Gebrauchstexte“ seien, „die der Kalkulation und Arbeitsplanung zugrunde gelegt und im Zusammenhang des Produktionsprozesses – Inszenierung, Dreharbeiten, Montage – ‘abgearbeitet’ werden, um dann in den Archiven zu verschwinden“ (Jürgen Kühnel), beschreibt ihre Funktion nur unzulänglich. Das Drehbuch ist für den Film, was in der Architektur der Grundriss ist. Jede Sparte erarbeitet auf dieser Grundlage für sich ein paralleles Arbeitsbuch. Die Vorgaben, die das Drehbuch macht, bedürfen der Interpretation nicht nur durch den Regisseur, sondern durch jeden einzelnen, ob er nun für das Casting, die Locations, die Maske, das Kostüm, das Storyboard, die Kamera, den Ton zuständig ist. Die Arbeit des Regisseurs ist vergleichbar mit dem des Dirigenten, der die einzelnen Instrumente eines Orchesters koordiniert, um genau den Klang zu finden, der ihm beim Studium der Partitur vorschwebt. Alle an der Herstellung des Films Beteiligten tragen das Ihre zur Entwicklung eines „Gesamtkunstwerks“ bei. Das macht die Faszination dieser Arbeit aus, dass im besten Fall der Funke überspringt und eine gemeinsame Vision alle beflügelt.
Diese Vision ist eine Emanation des Drehbuchs. Sie ist nicht ausdrücklich darin formuliert. Sie steht zwischen den Zeilen. Liest man ein Drehbuch, nachdem man den Film gesehen hat, ergänzt man die Wörter unwillkürlich durch die gespeicherten Bilder. Liest man es, ohne den Film zu kennen, beschwört auch die genaueste Szenenbeschreibung nicht die Bilder herauf, die der Film zeigt. Was als „Text zum Film“ auf den Markt kommt, „lesbar gemacht, in Buchform publiziert“ (Jürgen Kühnel) ist ein Angebot für Fans und Profis, denen das „making of“ auf der DVD nicht ausreicht. Wir bezweifeln allerdings, dass es auch nur annähernd möglich ist, „die audiovisuellen Zeichen des Films in das Zeichensystem der Literatur“ zu übersetzen (Jürgen Kühnel). Wozu auch? Bilder kann man nicht erfassen, indem man sie beschreibt. Diesen Konvertierungsversuchen gönnen wir die Bezeichnung „literarisches Drehbuch“ nicht. Wir meinen damit etwas anderes.
Zunächst müssen wir eingestehen, dass der Begriff eine Notlösung ist, eine pars-pro-toto-Setzung. Um dem Bild-Ton-Rhythmus-Gesamtkunstwerk Film auf die Spur zu kommen, müssen wir mehr als nur ein Fach öffnen. Da ist
- all das, was Wort für Wort im Drehbuch steht, also Dialoge, Regieanweisungen,
- das, was das Drehbuch beschreibend an Bildern nahelegt,
- alles übrige, das noch nicht einmal angedeutet ist: die Vision. Sie ist mehr als die Bilder, mehr als der Dialog, mehr als der Schnitt, mehr als die Musik, mehr als die Botschaft; sie ist all das zusammen. Sie ist der Geist, der den Film beflügelt, und dem wir kathartisch erliegen – wenn es ein großer Film ist.
Mit unserem Begriff von einem „literarischen Drehbuch“ wollen wir die Anker des Visionären in manchen (den wenigsten!) Filmen aufspüren, denn so schwer fassbar sie sind – wir sind davon überzeugt, dass es sich nicht um wunderbare Zufälle, sondern um die meisterhafte Beherrschung des Erzählens in Bildern handelt, mit anderen Worten: um die Summe von Handwerk und Inspiration. Dabei vernachlässigen wir die Filme, die nur aus einem dramatischen Gerüst plus Dialog bestehen – kurz, die meisten. Ihre manipulative Zielsetzung (Spannung, Unterhaltung) lässt dem Visionären keinen Raum. Ein Film ist ein interdisziplinäres Genre, er kombiniert die Zeichen der Bildenden Kunst mit denen der Tonkunst, bezieht von der Schauspielkunst Dialog, Mimik und Gestik und reproduziert überdies die Wirklichkeit, indem er sie in den Außenaufnahmen mitspielen lässt. In diesen Zeichen und Zeichenkombinationen offenbart sich – als Leitmotiv, als Wiederholung, als Rhythmuswechsel, als Licht und Schatten – die Vision. Unser „literarisches Drehbuch“ ist zunächst eine Arbeitshypothese. Wir interpretieren Filme aus dem, was wir sehen und hören, unter Anwendung der hermeneutischen Methode, die entwickelt wurde, um den „Sinn“ eines literarischen Werkes zu verstehen. Da wir bereits eine Vorahnung davon haben, dass diese Untersuchung eine Struktur des filmischen Erzählens zutage fördern wird, die mit dem literarischen Erzählen vergleichbar ist, nennen wir unser Objekt „literarisches Drehbuch“.
___
* Jürgen Kühnel. Das literarische Drehbuch. In: Mediazine. H. 7. Siegen 2001, S. 14-21.