Leseproben aus dem Roman zu bestimmten Themen:
Tschernobyl | Hungersnot – Holodomor | Perun | Generalplan Ost | Babij Jar | Panzerarmee | Herodot | Kesselschlacht | Reiterarmee – Isaak Babel – Budjonnys Reiterarmee | Herrenmenschen – Waffen-SS – Salz und Brot – Ukraine – Einsatzgruppen | Senitsa Vershovsky – Karl-Heinrich von Stülpnagel – Genozid | Sowjetische Kriegsgefangene | Kosakia | Ukrainisierung – Russifizieren | Sabaranskij-Kaserne | Kriegsteilnehmerkinder – Wiedergänger | Panzerkreuzer “Potemkin” | Kriegsgewinnler – Transnistrien | Tolbuchinplatz – Dendro-Park | Katakomben | Moldowanka – Benjamin Krik | Schwarzmeerflotte – Sevastopol – Taurische Reise | Balaklavabucht – Chersones | Russlandfeldzug | Bachcisaraj – Krimtataren – Puschkin – Gontscharnoje – Kriegsgräberfürsorge | Gotengau – Gotenburg – Theoderichshafen | Jalta – Gongadze | Sswernaja-Fjord | Sonderkommando | Einsatzgruppe D | Inkerman | Sapun-Höhen – Kriegserinnerungen | Goldfasanen – Reich der Finsternis – Zwangsarbeit | Russlandfeldzug | Kainszeichen – Widerstandsbewegung | Ostarbeiter | Helmuth Groscurth – Sonderkommando 4a – Generalfeldmarschall von Reichenau – Bjelaja Zerkow – Paul Blobel – Befehlsverweigerung | Taras Shevchenko | Ostwall – Verbrannte Erde | Wehrwolf – XIII. SS-Armeekorps | Babij Jar | Aktion 1005 | Willy Brandts Kniefall – Opa Nazi
Tschernobyl
Als sie sich dem Schiff zuwandte, fiel ihr eine Frage ein. Ob es ratsam sei, im Dnjepr zu schwimmen? „Ich würde es nicht tun“, erwiderte er. „Tschernobyl liegt nur 100 km oberhalb von Kiev“. Sie erinnerte sich an den Maisonntagmorgen 1986, als kontaminierte Regenwolken aus dem Osten sich über den bayrischen Biergärten entluden. „Das Unglück hatte auch sein Gutes“, bemerkte er. „Es hat die Menschen wach gerüttelt“. Melanie nahm an, er spreche darüber, dass die Gefahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sei, doch er meinte etwas anderes. „Tschernobyl war der Beginn der ukrainischen Unabhängigkeit. Die Menschenverachtung, mit der wir belogen worden sind, hat uns die Kraft gegeben, uns aus der Bevormundung durch die Sowjetunion zu lösen. Haben Sie von der Menschenkette im Januar 1990 gehört? 750.000 Personen fassten sich bei der Hand und verbanden so Kiev mit Lemberg“.
Holodomor
Sie verstehe nicht, erwiderte Melanie, wie in der Kornkammer Europas eine Hungersnot hatte ausbrechen können. „Die Planzahlen für die Ablieferungen waren so hoch angesetzt, dass der Eigenbedarf der Bauern nicht mehr gedeckt war. Die Eintreiber gingen mit äußerster Brutalität vor. Auf dem geringsten Mundraub stand die Todesstrafe. Die Städte wurden beliefert, auf dem Land verhungerten Millionen. Das haben die Ukrainer Stalin nicht vergessen“.
Perun
Ihr gefiel die Gründungslegende. Der Slawenfürst Vladimir I. (962-1015) hatte die 500 Jahre alte Siedlung erweitert und befestigt und einen neuen Gott für sie gesucht, da er die bislang angebeteten Götzen offenbar für abgewirtschaftet hielt. Er hatte Delegierte in alle größeren Städte der Welt geschickt, um das Angebot der Religionen zu prüfen. Sie hatten die Liturgien verglichen und sich für die byzantinische entschieden. Aus der Schönheit des Gottesdienstes hatten sie auf die Verehrungswürdigkeit des Gottes geschlossen. Vladimir I., so berichtet die Nestorchronik, ließ 988 die Götzen umstürzen, die einen zerschlagen und die anderen verbrennen. „Den Perún ließ er aber einem Pferde an den Schwanz binden und ihn die Anhöhe herab durch den Boricev zum Rucaj schleppen; und er stellte zwölf Männer hin ihn mit Ruten zu schlagen; dies aber nicht, als ob das Holz etwas fühle, sondern dem Teufel zum Hohn, der unter dieser Gestalt die Menschen täuschte, dass er Strafe empfange von den Menschen…” (Nestor-Chronik)
Generalplan Ost
Auch für Hitler war die Ukraine die Kornkammer Europas, „das Land, in dem Milch und Honig fließt“. Um Kiev zu erobern, hatte er den Vormarsch nach Moskau verschoben. Im Ersten Weltkrieg hatten die Deutschen während der Blockade gehungert. Mehr Land, mehr Getreide, nie wieder Hunger – das war die Formel, die den Marschbefehl nach Osten legitimierte. Im Rahmen des „Generalplans Ost“ sollten die Bewohner der eroberten Gebiete vertrieben und durch Ansiedlung „echter“ und „ethnischer“ Deutscher (Dänen, Norweger, Niederländer) ersetzt werden, um das Ödland in blühende Landschaften zu verwandeln. Ausgerichtete Ackerfurchen galten als Signale kultureller Überlegenheit . . . Es existieren Modelle der nationalsozialistischen Exportkultur, die Felder mit exakt parallelen Furchen, Reihendörfer mit millimetergenauen Abständen zwischen den einzelnen Höfen und Bauernstuben mit Eckbank, Kachelofen, gewürfelten Vorhangmustern zeigen. Sogar darüber wurde nachgedacht, welche Vorgartenpflanzen als deutsch-ordentlich zu empfehlen, welche als slawisch-unordentlich zu verbieten seien.
Babij Jar
Wenn an etwas nicht erinnert werden soll, dann ist es Babij Jar. Wenn ein Verbrechen vertuscht werden soll, dann die Ermordung von 33.771 jüdischen Bürgern aus Kiev. Die zweieinhalb Kilometer lange, bis zu 50 Metern tiefe Felsspalte ist nach 1957 systematisch aufgefüllt worden. An ihrem Nordende wurde ein Damm errichtet, Wasser und Schlamm wurden in den aufgestauten Teil gepumpt und der Damm immer wieder erhöht. Nach heftigen Regenfällen im März 1961 kam es zu einem Dammbruch. Eine neun Meter hohe Schlammlawine hat damals ein tiefer liegendes Wohnviertel überschwemmt und eine unbekannte Zahl von Bewohnern in den Tod gerissen. Im Jahr darauf sind die Reste der Schlucht mit Geröll aufgefüllt worden. Auf der nachgiebigen Oberfläche wurde ein „Kulturpark“ angelegt… Dieser Ort heißt nicht mehr Babij Jar, sondern Dorogoskitsi. Für den Fernsehturm hat man einen festen Untergrund gefunden, er steht auf der Felsplatte, über deren Rand die Erschossenen in die Tiefe stürzten.
Panzerarmeen
Der Djnepr-Mythos wurde der Roten Armee zum Verhängnis. So unüberwindlich der Strom Angreifern wie Verteidigern erscheinen mochte, er war es nicht, obwohl die meisten Brücken vor Ankunft der Deutschen gesprengt worden waren. Eine nur halb zerstörte Brücke bei Dnjepropetrovsk bildete am 25. August 1941 den Ausgangspunkt für einen ersten Brückenkopf der Wehrmacht am Ostufer. Die Eisenbahnbrücke von Saporoshje wurde von einer anderen Einheit im Handstreich genommen, bevor die Rotarmisten die Zünder aktivieren konnten. Südlich der Stadt Krementschug, wo niemand einen Angriff erwartete, setzte ein Gebirgsjägerregiment am 31. August mit Sturmbooten entlang einem 1500 m tiefen Schleusenbecken über den Fluss, bildete den dritten Brückenkopf und hielt ihn bis zur Ankunft von Kleists Panzerarmee.Von Norden drangen die Panzer Guderians, die mit einem großen weißen „G“ bemalt waren, nach Süden vor, überquerten die Desna und suchten im Rücken der Verteidiger von Kiev den Zusammenschluss mit den Panzern Kleists, die mit einem weißen „K“ bezeichnet waren und ihnen aus südlicher Richtung entgegen kamen. Am 15. September 1941 vereinigten sich beide Panzergruppen bei Lochwiza. Die Falle war zu.
Herodot
Herodot, der erste Chronist Europas, besuchte im fünften Jahrhundert vor Christus Skythien am Unterlauf der Borysthenes, wie der Dnjepr in der Antike hieß. Flüsse waren weiblich, sie wurden als Göttinnen angebetet, weil sie Leben hervorbrachten. Da die griechischen Stadtkolonien sich an der Mittelmeer- und Schwarzmeerküste reihten, brauchte er nur von Hafen zu Hafen zu segeln. Seine Berichte sind freilich nicht in unserem Sinne realistisch. Er hat alles für wahr genommen, was man ihm erzählte, auch Mythen und Legenden. Herodot auf den Tempelstufen, an den Kais, in den Hafenkneipen. In ein Wachstäfelchen hat er, Urvater aller Journalisten, seine Notizen gekratzt.
Die Kesselschlacht
Budjonny hatte die aussichtslose Lage erkannt und um die Erlaubnis gebeten, sich mit seinen Truppen den Weg aus dem Kessel zu erkämpfen. Stalin verweigerte ihm den Rückzug und ersetzte ihn durch Timoschenko, der die Tragödie nicht mehr aufhalten konnte. „Die Deutschen drückten die russischen Armeen im Dreieck Kiev – Tscherkassy – Priluki zusammen und griffen sie erbarmungslos aus der Luft an. Jede russische Division, jedes Regiment, jedes Bataillon, jede Kompanie, ja jede Gruppe versucht, sich irgendwie nach Osten durchzuschlagen. Hunderte von sowjetischen Soldaten fallen unter den Bomben deutscher Kampfflugzeuge; Hunderte werden von Granaten, MG-Geschossen und Handgranaten zerrissen; Hunderte gehen elend in den Sümpfen und in den Urwäldern zugrunde; Hunderte vegetieren wie Tiere im Dickicht und Moor weiter, bis sie vor Hunger sterben; Tausende und Abertausende ergeben sich apathisch in ihr Schicksal“. (Aus:„Kiev – die größte Kesselschlacht der Geschichte“. Autor: Werner Haupt)
Isaak Babels Reiterarmee
„Kennen Sie auch ‘Budjonnys Reiterarmee’“? Sie nickte. Babel hatte sie in ihrer russischen Phase gelesen, vor oder nach Dostojewski, Tolstoi, Gogol, Lermontow, Tschechow, Puschkin, Jessenin, Majakowski, Pasternak. Sie erinnerte sich dunkel an blutige Bilder aus einem grausamen Krieg.„Geschichten von Reitern und Pferden“, sagte er. „Von Kampf und Verrat, Wahnsinn und Erschöpfung, Plündern und Vergewaltigen, Sterben und Überleben. Als ob die Menschen nicht anders könnten. Als ob der Krieg ein Naturgesetz sei“.
Wie wir die Freiheit bringen
Anfangs wurden die Deutschen bei ihrem Einmarsch in die Ukraine von den Bauern mit Salz und Brot willkommen geheißen. Die große Hungersnot war gerade sieben Jahre her. Die Eroberer kamen aus dem Westen, sie brachten das Christentum zurück; die Ortsvorsteher fragten, ob die Kirchen wieder für den Gottesdienst geöffnet werden dürften? Was man von ihnen erwartete, war die Rückkehr von Freiheit und Gerechtigkeit. Es war den feldgrauen Uniformen nicht anzusehen, dass in ihnen so genannte Herrenmenschen steckten, die vorläufig noch so gnädig waren, von den gutgläubigen Zivilisten Geschenke entgegenzunehmen… Er verstand nicht gleich. Nun – jeder auf diesem Schiff sei in Familienangelegenheiten unterwegs… Auch das musste sie ihm erläutern. Er lehnte sich zurück. „Das gilt in der Tat auch für mich“, sagte er, „doch habe ich nicht vor, darüber zu sprechen“. In welcher Absicht sie frage? Statt einer Antwort beschrieb sie ihm, wie sie den Vormarsch der Deutschen und das Vorrücken der Generalstäbe auf der Landkarte minutiös mit der Aktivität der Einsatzgruppen der SS verglichen hatte, die sich in Feldgrau tarnten, um als Teil der Wehrmacht zu erscheinen. Unmittelbar hinter der Front fanden die ersten Massenerschießungen von Zivilisten statt. Bernd vergaß, dass er ihr eine Frage gestellt hatte. „Mein Vater“, sagte er, verstummte, setzte neu an, „mein Vater war bei der Waffen-SS. Ich habe mich oft gefragt, ob er – ?“ Der Verdacht wollte nicht über seine Zunge. „Er ist im Frühjahr 1944 gefallen. Ich habe ihn nie kennengelernt“.
Krementschug
Die Unterarme auf die Reling gestützt, erzählte Melanie Herbert die Geschichte des Bürgermeisters von Krementschug, Senitsa Vershovsky, der versucht hat, die Juden in seiner Stadt vor der Ermordung zu schützen und deshalb von den Deutschen, zusammen mit mindestens 7000 Juden, liquidiert worden ist. „Die, Säuberung’ erfolgte übrigens auf Antrag desdamaligen Oberbefehlshabers der 17. Armee, Karl-Heinrich von Stülpnagel“, fügte sie hinzu. „Unmöglich. Ein Gegner Hitlers. Er wurde 1944 hingerichtet“, wandte Herbert ein. „Was schließt denn das aus?“ fragte Melanie. „Die Generalität war antisemitisch. Der Russlandfeldzug implizierte den Genozid, und alle haben es gewusst“.
Der Alptraum
Im Herbst 1941 wurde das Ostufer des Dnjepr, von dem die Schiffsreisenden nicht mehr sahen als einen grünen Streifen Buschwerk und Niedrigwald, zum Schauplatz eines Kriegsverbrechens, das länger mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt worden ist als alle anderen, denn verantwortlich dafür war allein die Wehrmacht. Wenige Tage, bevor der Kessel von Kiev geschlossen wurde und 665.000 sowjetische Soldaten in deutsche Gefangenschaft gerieten, sind vom Oberkommando der Wehrmacht die “Anordnungen über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in allen Kriegsgefangenenlagern“ erlassen worden, in denen es hieß, jeder sowjetische Gefangene sei ein im Bolschewismus geschulter Gegner, folglich habe er den Anspruch auf Behandlung nach dem Genfer Abkommen verloren. Die sowjetischen Kriegsgefangenen – und nur sie, nicht die französischen, englischen, amerikanischen – waren nicht nur jeder Willkür preisgegeben. Sie wurden absichtlich Verhältnissen ausgesetzt, die sie nicht überleben konnten.
Die Verteidiger der Wehrmacht behaupteten später, dass die Armeeführung der Situation organisatorisch nicht gewachsen gewesen sei. Doch die Einkesselung großer Truppenansammlungen mittels schnell vorrückender Verbände war auch beim Angriff auf die Sowjetunion von Anfang an geplant gewesen. Im Frankreichfeldzug, in dem die Deutschen mit der gleichen Taktik operiert hatten, war durch die Einrichtung von Lagern Vorsorge für eine große Anzahl von Gefangenen getroffen worden. Im Russlandfeldzug war alles anders. Der Tod von Millionen „Untermenschen“ war Kalkül. Der Generalquartiermeister im Oberkommando des Heeres, Eduard Wagner (der, als sich abzeichnete, dass der Krieg verloren war, zu den Attentätern vom 20. Juli überlief), setzte für die russischen Kriegsgefangenen Verpflegungsrationen fest, die weit unter dem Minimum lagen, das einen erwachsenen, körperlich schwer arbeitender Mann am Leben erhält.
Verratene Verräter
„Sie kamen zu uns“, sagte plötzlich Sophie. “Ich weiß das von meiner Großmutter. Sie stammte aus der Nähe von Tolmezzo in den italienischen Alpen. Die Gegend wurde plötzlich von Kosaken überschwemmt, die ihr Vieh auf die Weiden der Bauern trieben, alles stahlen, was nicht niet- und nagelfest war und jeden als Partisanen erschossen, der sie daran zu hindern versuchte. Im Februar 1945 erschien ein uralter, klappriger Mann mit Gehstock in einer Phantasieuniform, ein General Krasnow, und behauptete, er sei das Oberhaupt der freien Republik Kosakia von Gnaden der Deutschen. Das Resultat war, dass die Alpenbauern von alliierten Flugzeugen bombardiert wurden. Im März, als die Engländer näher rückten, zogen die Kosaken weiter. So kamen sie zu uns nach Lienz. 40.000 waren es, behauptete mein Großvater. Die Engländer lockten ihre Generäle und Offiziere in eine Falle und teilten ihnen dann mit, dass sie an die Sowjetunion ausgeliefert würden. Da die meisten Männer bewaffnet waren, gab es ein Blutbad. Viele brachten sich um. Diejenigen, die hatten fliehen können, machten später als Räuberbanden die Gegend unsicher“
Russisch
„Woran soll man uns als Ukrainer erkennen, wenn wir nicht Ukrainisch sprechen, sondern Russisch?“ Julija gab im Vortragssaal einen Kurs „Einführung ins Ukrainische“. Da man den Raum im Rücken des Publikums betrat, konnte man auch wieder hinausgehen, ohne zu stören. Die Plätze hinten waren dichter besetzt als die vorn, als ob viele Zuhörer sich, wie Melanie, die Möglichkeit des Rückzugs hatten offenhalten wollen. „Wir brauchen diese Wiederbelebung unserer Sprache für die Entwicklung einer Identität, die wir nie hatten. Von 1861 bis zur Oktoberrevolution war Russisch in der Ukraine Amts- und Landessprache. Publikationen in ukrainischer Sprache, sogar von Theaterstücken und Liedertexten, waren verboten. Es war Lenin, der in den Zwanziger Jahren die Ukrainisierung der Ukraine gefördert hat, und Stalin war es, der sie in den Dreißiger Jahren wieder verbot und ihre Befürworter zu Volksfeinden erklärte. Das war ein tödliches Verdikt. Ich erzähle Ihnen lieber nicht, wie viele meiner Verwandten in den sogenannten Säuberungen umgekommen sind, die der Hungersnot auf dem Fuße folgten. Ich kenne keine Familie, die verschont geblieben wäre. Stalin wollte nicht nur die intellektuelle Elite des Landes ausrotten. Er wollte die Ukraine durch und durch russifizieren. Und mit Stalins Tod war der Stalinismus längst nicht zu Ende. In den 70er Jahren, als ich studierte, wurden ukrainische Dissidenten zu Hunderten vor Gericht gestellt. Nun waren es nicht mehr unsere Väter und Onkel, die im Archipel Gulag umkamen, sondern unsere Brüder und Cousins.“
Nachtarbeit
„Mitte September 1941 begannen die Russen, nachts und in aller Stille, ihren Rückzug aus dem belagerten Odessa, um alle Kräfte für die Verteidigung der Krim frei zu stellen. Sie evakuierten ihre Truppen und Ausrüstungen über das Meer, ohne dass der deutsche oder der rumänische Nachrichtendienst davon Wind bekamen. Vorher hatten sie einige wichtige Industriewerke demontiert und hinter den Ural verlegt, sogar die Universität hatten sie mitgenommen. Was zurückblieb, wurde nach dem Prinzip, dass dem Feind nichts Brauchbares in die Hände fallen dürfe, zerstört. Dämme wurden gesprengt, so dass ganze Stadtviertel unter Wasser standen, nicht etwadie eleganten, sondern die Wohnquartiere der Arbeiter. Pferde, die nicht mehr abtransportiert werden konnten, wurden im Hafen erschossen. Die Lokalzeitung erschien noch am 15. Oktober mit der Schlagzeile: ,Odessa war, ist und wird sowjetisch sein’. Dann verstummte plötzlich die Artillerie und die letzten Truppen verließen den Hafen. Es dauerte einen ganzen Tag, ehe die rumänischen Belagerer begriffen, dass sie freien Zugang hatten. Das Sonderkommando 11 b der Einsatzgruppe D war unmittelbar nach dem Einmarsch zur Stelle. Zusammen mit einer Abteilung des rumänischen Nachrichtendienstes erschossen die Deutschen in der Sabaranskij-Kaserne die hauptsächlich jüdische intellektuelle Elite, rund 8000 Menschen. Und das noch vor dem Attentat“
Es sei nicht so, dass sie etwas Bestimmtes erwarte, erwiderte Melanie. Sie überprüfe nur ihre Hypothese, dass jeden Reisenden auf diesem Schiff etwas mit dem Kriegverbinde, der dieses Land vor zwei Generationen verwüstet hat. Die Dnjepr-Reisen seien schon zu sozialistischen Zeiten fast nur von Deutschen gebucht worden. Ein Journalist habe in den 80er Jahren viele ehemalige Kriegsteilnehmer ausgemacht, die an diese Orte zurückkehrten wie Wiedergänger auf der Suche nach Ruhe. Inzwischen seien die meisten vermutlich gestorben. „Sie meinen, frühere SS-Leute, Teilnehmer eines Erschießungskommandos etwa, hätten sich, als Touristen getarnt, an den Ort ihrer Verbrechen begeben?“ Ausgeschlossen sei das nicht, erwiderte Melanie. Doch wenn es so wäre, würde es sich nur um einzelne handeln. Die wenigen Greise an Bord halte sie für Veteranen, die sich vor Ort an das Inferno erinnern wollten, das zu überleben sie das Glück gehabt hatten. „Aber wir? Sie und ich, die Generation der Kriegsteilnehmerkinder? Was suchen wir hier?“ Es müsse etwas sein, das auch Bernd und sie verbinde, antwortete Melanie. „Die Wahrheit über unsere Väter“, schlug er vor. „Aber wo auf dieser Reise könnten wir sie finden? Sie steht in Dokumenten, verbirgt sich in Zahlen“.
Der Film
Lebhaftes Treiben auf der Treppe. Die Bewohner von Odessa streiken aus Solidarität mit den meuternden Matrosen. Sie winken hinter den Booten her, die zum Panzerkreuzer „Potemkin“ aufgebrochen sind.
Die Kamera holt aus der Masse einzelne Personen heraus:
Eine Mutter mit Kind.
Ein altes Ehepaar.
Einen jungen Mann mit Brille.
Eine Prostituierte.
Einen beinlosen Bettler.
Plötzlich erscheinen hoch oben Kosaken und treiben das friedliche Volk mit Gewehrsalven vor sich her die Treppe hinunter.
Die Kamera geht mit ihnen mit.
Die Stufen seitlich, die Stiefel, die Reihe der angelegten Gewehre, die Schüsse.
Die Bronzehand mit der Urkunde, die von oben droht wie die unerbittliche Obrigkeit.
Menschen fliehen in panischer Angst.
Ein Mann ohne Beine schwingt sich auf seinen Händen die hohen Seitenstufen hinunter.
Die Masse der Fliehenden von vorn.
Dahinter frontal die Reihe der Soldaten, die ihre Gewehre anlegen.
Beine knicken ein – ein Mann überschlägt sich.
Zwei Männer fallen.
Ein Kind setzt sich zwischen sie, hält sich die Ohren zu.
Die Soldaten von hinten und oben. Sie schießen.
Kriegsgewinnler
Die Oper wäre nach dem Fall Odessas fast auch in die Luft gesprengt worden, doch die Geheimpolizei fand die Bomben rechtzeitig. Der Anschlag hätte, wäre er geglückt, ein weiteres Blutbad angerichtet, denn die Oper war der Treffpunkt der Besatzungsprominenz und Kriegsgewinnler, auch viele deutsche Offiziere besuchten sie. Odessa war jetzt Hauptstadt der Provinz Transnistrien, des Landstrichs zwischen Dnjestr und Prut, den sich Rumänien mit Hitlers Einverständnis angeeignet hatte.
Das übrige Transnistrien jedoch, die neue rumänische Provinz zwischen Prut und Dnjestr, wohin die Juden der Region teils flüchteten, teils von den Rumänen aus dem Altreich abgeschoben wurden, verwandelte sich, Lager neben Lager, Bogdanowka, Domanewka, Achmetschoka, in ein KZ-Archipel, dessen Insassen verdursteten, verhungerten, erfroren, an Krankheiten starben – insgesamt etwa 150.000. Viele wurden auch auf unvorstellbar grausame Weise ermordet. Als freiwillige Totschläger taten sich dabei die deutschen Siedler hervor, durch deren Dörfer sie getrieben wurden.
Schlechtes Benehmen
Ob einer von ihnen den Namen Odessa vor dieser Reise schon einmal gehört habe? fragte Melanie. Die Gesichter verschlossen sich. Herbert beeilte sich zu versichern, dass Odessa außerhalb des Zuständigkeitsbereichs deutscher Geschichtslehrer liege, da es von den Rumänen besetzt gewesen sei. Es gebe Bilder, derer sie sich nicht erwehren könne, erwiderte Melanie. „Panzerkreuzer Potemkin“, schlug er vor. „Unter anderem“, erwiderte sie. Eisensteins Film zeige die Opfer als Individuen. Das sei etwas zutiefst Menschliches, es erlaube Erinnern und Trauern. Doch was unten am Hafen, dort, wo jetzt das große Parkhaus stehe, und anderswo, geschehen sei, bedeute das Negieren des individuellen Todes durch das Massaker. Sie wartete, bis die Tischrunde sich auf das Schlimme gefasst gemacht hatte. Am 23. Oktober 1941 seien hier 19.000 Juden hinter einem Holzzaun erschossen worden. Zum Tolbuchinplatz würde sie gar nicht zu gehen wagen, weil sie sich dann vorstellen müsste, wie 24.000 Menschen in acht Lagerschuppen gedrängt worden seien, die mit Flammenwerfern in Brand gesetzt und mit Maschinengewehrfeuer belegt wurden. Auch der Dendro-Park sei ein gespenstischer Ort. Alte Leute, Frauen und Kinder seien dort bei lebendigem Leibe in einen 300 Meter tiefen geologischen Schacht geworfen worden.
Die Katakomben
Von allen Geschichten aus dem okkupierten Odessa ist dies die fabelhafteste, und sie ist wahr. Die Türken hatten sich hier 1540 festgesetzt und ein Fort errichtet, das durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge von etwa 200 Kilometern Länge, mit über 160 Ausgängen, die in die Keller alter Patrizierhäuser im Stadtkern, in Brunnenschächte, in Felder und Friedhöfe außerhalb der Stadt führten, unterhöhlt war. 1941 bot es sich an, hier ein Untergrundquartier mit Vorräten, Waffen und Funkgeräten anzulegen, in das hinein sich nicht einmal die SS wagte. Teils waren es alte, längst ausgebeutete Stollen unterirdischer Steinbrüche, teils neue Räume, die eigens für die Mitglieder des kommunistischen Kreiskomitees und deren Hab und Gut eingerichtet waren.
Die Moldowanka
„Isaak Babel ist in der Moldowanka aufgewachsen, wo Ganoven wie Benjamin Krik von seinem Vater Schutzgeld erpressten. Er sollte ein besseres Leben haben, deshalb wurde er auf gute Schulen geschickt. In seiner Autobiografie beklagt Isaak den Leistungsdruck zu Hause, wo er sich von morgens bis abends mit einer Menge Wissenschaften hat abgeben müssen“. Melanie dachte daran, was ihm bevor gestanden hätte, wenn er 1941 den Deutschen in die Hände gefallen wäre. Er war kurz vorher ermordet worden – gefoltert in der Ljubljanka, zum Tode verurteilt auf Grund erzwungener Geständnisse, erschossen im Januar 1940. Ob seine Familie 1941 noch in Odessa war, fragte Melanie. „So viel ich weiß, war sie in Nikolajev“. Ihr lief es kalt über den Rücken. Nikolajev war einer jener Namen, die unter den Familientisch gefallen und vom Gedächtnis des Kindes aufbewahrt worden waren.
Sevastopol
„Eine gute und eine schlechte Nachricht“, sagte er. „Die gute Nachricht zuerst: Sevastopol ist keine geschlossene Stadt mehr. Die Paranoia im Umgang mit Fremden lässt nach. Die schlechte Nachricht: Sevastopol ist und bleibt russische Kolonie“. Melanie referierte, was sie in ihrem Reiseführer gelesen hatte: 1954, zum 300-jährigen Jubiläum des Vertrags von Perejaslav, hatte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Krim der Ukraine als Zeichen der „brüderlichen Liebe des russischen Volkes“ geschenkt… „Das war eine der ersten Amtshandlungen Chruschtschows, als er sich im Politbüro als Nachfolger Stalins etabliert hatte“, erläuterte er.
Für Teresa war „Schwarzmeerflotte“ ein Wort mit einer hell leuchtenden Aura. Katharina die Große hatte den Bau der Armada 1783 befohlen und Fürst Potemkin ihn auf den Werften von Cherson so weit vorangetrieben, dass die Zarin zum Abschluss ihrer „Taurischen Reise“ im Sommer 1787 in Sevastopol die Parade von 25 voll ausgerüsteten Kriegsschiffen abnehmen konnte. „Katharinas Vision“, erklärte Teresa, „war die Vertreibung des Islam aus dem Schwarzmeerraum. Ihr Modell war die griechische Kolonisation, die sie durch eine christlich-orthodoxe ersetzen wollte. Das deuten schon die antikisierten Namen an, die sie für neu gegründete oder den Tataren abgenommene Städte wählte: Odessa, Cherson, Feodosija, Simferopol“.
Chersones
Sie bogen von der Hauptstraße ab. Ein paar hundert Meter weiter befanden sie sich im alten Griechenland. Melanie hätte nicht vermutet, dass der vom Hellenismus geprägte Süden Europas so weit nach Osten reicht. Vor einem fernen blauen Horizont ein riesiges Ausgrabungsfeld: geriffelte weiße Säulenfragmente in unterschiedlicher Höhe, der Straßenverlauf durch Mauerreste angedeutet, Grundriss an Grundriss, Zisternen, rudimentäre Tempelanlagen mit zerbrochenen Marmorplatten, eine massive Stadtmauer. In dieser blühenden griechischen Hafenstadt hatte sich Herodot vier Jahrhunderte vor Christi Geburt notiert, was man ihm über die Taurer erzählte, die von der Balaklavabucht aus ihr Handwerk als Seeräuber betrieben. So fürchterlich war ihr Ruf, dass Homer an ihnen Maß für die Laistrygonen nahm, die menschenfressenden Riesen, die alle Schiffe des Odysseus bis auf sein eigenes mit Felsblöcken zertrümmerten und die Besatzung roh verspeisten.
Hier haben sich die Kulturen zu Jahresringen aus Trümmern geschichtet. Griechische Mosaiken schmückten, in christliche Symbole umgeformt, die Wände und Fußböden der byzantinischen Kirchen, die über den heidnischen Tempeln errichtet worden waren. Kaiser Nero, erzählte Teresa, habe die verhassten Christen nach Chersones in die Verbannung geschickt, bis sie so zahlreich waren, dass sie die Kolonie zu einer Keimzelle des neuen Glaubens machten. „Dort drüben“ – sie deutete auf die grellweiße, überirdisch makellose, riesige Kuppelkirche am Rand des Ruinenfeldes – „sehen Sie den Neubau einer Basilika, die dem Heiligen Vladimir gewidmet ist. Ein Geschenk Putins. Er war zur Eröffnung hier“. Sie sprach den Namen voll Stolz aus. „Chersones ist die Wiege der Rus’, Kiev ist ihr Herz“.
Nachts an Deck
Melanie erinnerte sich an ihre Recherche und fragte ihn nach dem Grund seiner Reise mit der „Borysthenes“. Sein Freund habe ihm, da seine Frau sich kurz vor der Reise von ihm getrennt habe, den zweiten Kabinenplatz angeboten. Er setzte an, ihr das Ehedrama zu schildern. Melanie blieb beim Thema: Keine familiengeschichtlichen Gründe? „Unsere Väter haben doch fast alle in Russland gekämpft“. Ihre Art zu fragen schien ihm Vorsicht anzuraten. Melanie sprach also von sich, beschrieb ihre Spurensuche, nannte Rang und Amt des jungen Offiziers, dessen 1941 in Nikolajev aufgenommenes Foto ihre Mutter ein Leben lang in einem verborgenen Brieftaschenfach mit sich herumgetragen hatte. Darauf ging er lebhaft ein. Sein Vater sei ebenfalls Berufsoffizier gewesen, Oberst der Infanterie. Er habe den ganzen Russlandfeldzug mitgemacht. (Na also). Also habe er den Krieg überlebt? Kopfschütteln. Ob er gefallen sei? Kopfnicken. Wann? Wo? Er verschloss sich.
Bachcisaraj
„Die russischen Kolonialherren setzten auf Zeit und auf den Mythos vom Heiligen Russland griechischer Provenienz, dessen Wiege angeblich auf der Krim stand“, wird Melanie am Abend ihre Notizen ergänzen. „Die religiöse und intellektuelle Führungsschicht der Tataren wanderte nach und nach ins Osmanische Reich aus. Die Weingärten und Obstplantagen wechselten die Besitzer. Die Krim wurde zur russischen Riviera und für die Dichter zum Land der Sehnsucht. Den Bachcisaraj schützte sein Ruhm auch vor den Deutschen. Manstein,der Befehlshaber der 11. Armee, hielt seine Hand über das ,Juwel tatarischer Baukunst’. Nach seiner Besetzung erschien eine tatarische Abordnung bei ihm und überreichte ihm Obst und handgewebte Stoffe für ,Adolf Effendi’. Die Kosaken und die Tataren hielt Hitler für Nachfahren der Goten, die sich hier zeitweise niedergelassen hatten, also für rassisch verwandte Völker. Gefangene Krimtataren wurden nicht liquidiert, sondern zu militärischen Hilfsverbänden zusammengefasst, die auf deutscher Seite kämpften. Dafür mussten sie teuer bezahlen. Unmittelbar nach dem Rückzug der Deutschen im Mai 1944 ließ Stalin 180.000 von ihnen deportieren, die Mehrheit nach Usbekistan. Ihre Häuser und Moscheen wurden bis auf den Gartenpalast dem Erdboden gleich gemacht. Hätte Puschkin den Tränenbrunnen nicht russifiziert, stünde hier kein Stein mehr auf dem anderen.“…
Durch sanfte, grüne Hügel fuhren sie weiter zum deutschen Soldatenfriedhof Gontscharnoje, wo in einer fünf Hektar großen Eichenwaldschonung bislang 7000 der etwa 150.000 auf der Krim und in Südrussland gefallenen deutschen Soldaten bestattet sind. Alle improvisierten Friedhöfe der besiegten Wehrmacht waren nach Kriegsende von den Sowjets eingeebnet worden. Auch in dieser Hinsicht bedeutete das Ende der Sowjetunion den Beginn einer neuen Ära, denn es war eine russische Initiative, die 1989 dazu führte, dass die Friedhöfe und Gräber anhand von Karten und Befragungen der Anwohner aufgespürt undregistriert wurden. In Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurden die Toten ausgegraben und anhand ihrer Erkennungsmarken identifiziert. Auf dem umfriedeten Areal setzen ein großes graues Granitkreuz und Dreiergruppen kleinerer Kreuze feierliche Akzente. Vor dem Gebäude am Eingang zum Friedhof, wo eine Namensliste ausliegt, standen Melanies Mitreisende Schlange.
Gotengau
“Davon träumte Hitler“, sagte er. „Dieses Felsmassiv zu erobern und Deutschland mit einer Riviera zu beschenken… Er war davon überzeugt, die Krim sei ureigenstes germanisches Siedlungsgebiet, weil sich dort vorübergehend auch gotische Stämme niedergelassen hatten. Im ‘Generalplan Ost’ war ein ‘Gotengau’ vorgesehen, der die Halbinsel und Südrussland bis nach Cherson umfassen sollte. Jemand hatte vorgeschlagen, ich glaube, Hitler selbst, die Hauptstadt Simferopol in Gotenburg umzutaufen, und Sevastopol in Theoderichshafen! Jalta als Kurort sollte direkt an das deutsche Autobahn-Netz angeschlossen werden, so dass man ‘die ganze Strecke bequem in zwei Tagen’ schaffen könnte! Zitat Hitler… Er wollte die Krim von ihren Bewohnern räumen lassen und ausschließlich mit Deutschen bevölkern. Da es mit Südtirol gerade ein Nationalitäten-Problem gab, wurde ernsthaft erwogen, alle Südtiroler ans Schwarze Meer umzusiedeln“.
Jalta
Auf den hundert Schritten Weg zum Parkplatz erfuhr Melanie in Stichworten, dass sich gegen die korrupte Regierung Kucma eine Opposition formiere, die sich periodisch in öffentlichen Protesten äußere, denen jeweils Verhaftungen und Misshandlungen folgten. Journalisten seien besonders gefährdet. Ob sie vom „Kucma-Gate“ gehört habe? Der Fall Gongadze, ganz recht. Sie wusste, dass Georgij Gongadze, der in seiner Internet-Zeitung über Korruption und Willkür berichtet hatte, im September 2000 entführt und ermordet worden war. Neu war ihr, dass ein Tonbandmitschnitt kursierte, auf dem der Präsident persönlich – korrekter: „eine männliche Stimme, die der Kucmas zum Verwechseln ähnlich ist“ – forderte, den Journalisten zu beseitigen. „Selbstverständlich leugnet er alles. Zurzeit ist Kritik an der Regierung jedenfalls lebensgefährlich“.
Sonnenuntergang
An einem seit Anbeginn Heiligen Ort, dessen sich keine Religion bemächtigen kann, weil der Zauber nur wenige Minuten dauert und nicht von dieser Welt ist – an einem barbarischen Ort, wo seit Menschengedenken Blut fließt, ohne die Götter zu versöhnen, an der Einfahrt zum Sswernaja-Fjord, auf dessen Grund sich die Skelette gesunkener Schiffe türmen, hatten sich die Nachfahren der Taurer und Kimmerier, der Skythen und Goten, der Griechen und Byzantiner, der Tataren, Türken, Kosaken und Russen versammelt, um die Sonne untergehen zu sehen. In der Dämmerung schlüpften alte Frauen und Männer aus ihren Kleidern und glitten wie Amphibien über die betonierte Kante ins Wasser. War das ein Privileg des Alters, ein überlieferter Jungbrunnen? Oder das Gegenteil: ein tägliches Gottesurteil über die Kraft, nach einem Akt evolutionärer Regression die terrestrische Lebensweise wieder aufzunehmen?
Sophies Geschichte
Meine Eltern gaben sich jetzt große Mühe mit ihrem Familienleben. Blut sei dicker als Wasser, sagten sie. Die Verwandtschaft müsse zusammenhalten. Sogar die Tanten Anna, Rosa und Betty wurden eingeladen und fielen Onkel Ernst, den sie Franz nannten, gerührt um den Hals. Sie äußerten Verständnis dafür, dass er sich versteckt hatte. Wenn die Russen ihn damals in die Hände bekommen hätten, wäre er aufgehängt worden. Nun drohten ihm höchstens ein paar Jahre Gefängnis …
Ein paar Monate später fand der Prozess statt, und mein Vater wurde freigesprochen. Seine „alten Kameraden“ feierten seinen Freispruch bei uns. Wer sie in Wirklichkeit waren – Mitschuldige, die ihm mit ihren falschen Zeugenaussagen den Rücken deckten – habe ich erst sehr viel später herausgefunden. Da mir immer noch niemand sagte, wie die Anklage gelautet hatte, durchsuchte ich, als ich einmal allein zuhause war, alle Kommodenschubladen, auch die zugesperrten. Alle Kinder wissen, wo die Eltern ihre Schlüssel aufbewahren. Ich fand die Prozessakten und entnahm ihnen, dass mein Vater einem Sonderkommando angehört hatte. Darunter konnte ich mir nichts vorstellen. Das Wort ‘Mord’ kam, erinnere ich mich, mehrmals in der Anklageschrift vor. Die von der Verteidigung geladenen Zeugen beschworen, dass er nur Schreibtischarbeit geleistet habe. Der Freispruch erfolgte aus Mangel an Beweisen. Diese Formulierung habe ich mir gemerkt, weil ich sie nicht verstanden habe.
Mordbilanz
Aus Simferopol meldete die Einsatzgruppe D am 18. Februar 1942, dass nahezu 10.000 Juden erschossen worden seien, 300 mehr, als man registriert hatte. Die Folge war, dass man die Krim noch einmal gründlich nach übersehenen Opfern durchkämmte. Nachdem die Einsatzgruppe D alle Krim-Juden getötet hatte, fügte sie ihrem Abschlussbericht an den Ic der 11. Armee einen wortreichen Abschnitt über den allgegenwärtigen Einfluss hinzu, den das Judentum vor dem Krieg auf der Halbinsel ausgeübt habe. Insgesamt hatte die Einsatzgruppe D nach eigenen Angaben seit Kriegsbeginn bis zum 16. April 1942 genau 91.678 Menschen von Hand liquidiert.
Inkerman
„Inkerman!“ Das war Ninas Stimme. Sie klang, als ob sie die Aufzählung übertrumpfen wollte. So werden „Verdun“ oder „Stalingrad“ intoniert. Der Bus hielt auf dem Boden einer Schlucht. Die Reisenden starrten auf steile, durchlöcherte Kalkwände. Inkerman war – und ist – eine berühmte Kellerei. „Der weiche Fels, der natürliche Höhlen enthielt, die Jahrhunderte hindurch erweitert und durch Gänge verbunden worden waren, diente als Weinlager. Während der Belagerung Sevastopols wurden dort auch die Munitionsvorräte untergebracht. Außerdem fanden Tausende von Zivilisten, vor allem Familien mit Kindern, in den Stollen und Höhlen Zuflucht. Als die Deutschen sich anschickten, Sevastopol von der Landseite her zu erobern, zerriss eine gewaltige Explosion den Fels, die Wand rutschte ab, niemand überlebte“. Alle schwiegen; bis auf einen. „Lüge! Die Russen selbst haben den Bunker gesprengt!“ Das bestreite sie ja gar nicht, entgegnete Nina leise. Sie spreche vom Ausgeliefertsein der Zivilbevölkerung. „Unter den Toten waren meine Großmutter und alle ihre Kinder, bis auf meinen Vater. Der ist vor zwanzig Jahren in Afghanistan gefallen“. Melanie wäre gern ausgestiegen, um sich den Ort einzuprägen. In dem klimatisierten Bus nahm man noch nicht einmal die Außentemperatur wahr, geschweige denn den Felsen, seine unter Unkraut und Gestrüpp verborgenen Verletzungen, die wuchernde Gegenwehr der Natur.
Denkmäler II
Anschließend fuhren sie zu den Sapún-Höhen. Ein lichter Wald hat die Kriegsspuren zugedeckt. Zwischen Birken und Fichten allerlei Weltkriegs-Waffen: Panzer, Geschütze, ein kleines U-Boot mit Torpedo. Das Bunkergelände ist nun ein Freilichtmuseum mit einem Mahnmal. Kleine Jungen wurden von ihren Vätern auf Panzer gehievt, größere balancierten auf dem Torpedo. Auf einem Flakgeschütz probierten zwei Halbwüchsige, wie man das Rohr ausrichtet. Waffen als Spielplatz – das wirkte geradezu zivilisiert, gemessen an all diesen Kriegsberichten, in denen sie den Tod bringen. Die Veteranen umringten einen T34. „Der beste Panzer des zweiten Weltkrieges“. – „Unser Tiger war besser“. – „Er war nur besser gepanzert. Sein Motor war viel zu empfindlich. Zu viele Ausfälle“. – „Schau ihn dir an. Die Linienführung ist ideal.“ – „Billig in der Herstellung. Sie konnten ihn in Massen produzieren.“ – „Die Ketten. Viel breiter als unsere. Damit kamen sie auch im tiefsten Schlamm voran.“ – „Wir hatten immerhin den T70“. – „Der taugte doch nur als Abschleppfahrzeug.“ – „PAK 3,7. Damit haben wir sie geknackt“. – „PAK 8,8. Die reichte noch weiter“…
Kriegserinnerungen sind ein anrüchiges Genre, doch diese jungen Krieger in den Körpern alter Männer hatten etwas Rührendes. Sie hatten die Hölle überlebt, waren nach Hause zurückgekehrt, hatten eine Familie gegründet und ein Leben aufgebaut. Könnten die Toten sich äußern, dachte Melanie, würden sie von der Erfahrung sprechen, die den Veteranen erspart geblieben ist: dem Sterben vor der Zeit.
Goldfasanen
Die Ukraine war in die Hand von Parasiten gefallen: „Goldfasanen“ – so nannte der Volksmund die NS-Funktionäre wegen ihrer gelben Uniform – Glücksrittern, Spekulanten, SS-Chargen. Unter dem Reichskommissar Erich Koch begann ein Kapitel deutscher Kolonialpolitik, das die Schändlichkeit dieses Krieges multiplizierte. Er gebärdete sich als absoluter Herrscher eines Reiches der Finsternis. Zwangsrekrutierte Ukrainer wurden auf seine Anweisung hin verprügelt, wenn sie es an „Arbeitseifer“ fehlen ließen. Die Übergriffe wurden nach Berlin gemeldet und führten selbst unter den abgebrühten Nazifunktionären zu Protesten… Im Übrigen wurden Männer und Frauen in den besetzten Gebieten gleichermaßen zur Zwangsarbeit rekrutiert. Ausbeutung und Terror führten dazu, dass die Städte sich leerten. Die Menschen wanderten aufs Land ab, wo es leichter war, sich dem Zugriff der Rekrutierungskommandos zu entziehen. In einer Situation der Ausweglosigkeit zogen sie es vor, zu den Partisanen zu gehen, die auf diese Weise bald ernstzunehmende Gegner in diesem Krieg wurden.
Ramazotti
„Sie haben nach meinem Vater gefragt“, sagte er. „Seither kommt er mir ständig in den Sinn. Dabei habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr an ihn gedacht“. Melanie erkundigte sich, bei welcher Einheit er gewesen sei. Das wisse er nicht. Ob er nicht nachgeforscht habe? „Wozu? Er ist tot“. Ihr fiel ein, dass sie ihn in Gontscharnoje in der Schlange vor dem Belegungsbuch hatte stehen sehen. „Das war wegen Erwins Vater. Er ist beim Rückzug irgendwo auf der Krim gefallen. Auf der Liste stand er aber nicht“. Melanie wollte nicht in ihn dringen. Gewiss waren die wieder erwachten Erinnerungen schmerzlich. Da sagte er monoton, wie man etwas auswendig Gelerntes vorträgt: „Mein Vater hat den ganzen Russlandfeldzug mitgemacht. Einmal Kaukasus und zurück. Er hat alle Schlachten überlebt, aber nicht den Krieg. Er hat der Widerstandsbewegung angehört und ist nach dem Krieg für einen politischen Posten vorgesehen gewesen“. Er nannte ein Amt und eine schwäbische Provinz. „Die Unterlagen sind der Gestapo in die Hände gefallen. Beim Rückzug, auf deutschem Boden und wenige Wochen vor der Kapitulation, hat er sich erschossen, um der Folter zu entgehen“.
Burghart L. stieg in den Personenkreis auf, der in Melanies moralischem System das Ehrenpodium einnimmt. Er trug das Kainszeichen nicht. Er hatte sich nicht von Vater und Mutter distanzieren müssen. Er hatte sich von seinen Wurzeln nicht lösen und neue suchen müssen. Er hatte das Glück, dieser Generationenkatastrophe als ein ganzer Mensch entkommen zu sein. So dachte sie.
Ostarbeiter
In der Gangway sprach sie eine alte Frau mit einem schwarzen Kopftuch an. Burghart L. zog sofort sein Portemonnaie. Während auch Melanie ein paar Grywna hervorkramte, erzählte die Bettlerin in gebrochenem Deutsch, sie sei im Krieg als Zwangsarbeiterin „im Reich“ gewesen. Melanie fragte nach ihrem Namen. „Lena“, antwortete sie und fügte einige Silben hinzu. Wo genau sie gewesen sei und wann? Was sie gemacht habe, im Haushalt gearbeitet, oder in einer Fabrik? „Weiß nicht mehr“, war alles, was sie antwortete, und: “Ich so jung, so jung“…
Die „Ostarbeiter“ verkörpern ein weiteres Kapitel deutscher Kriegsverbrechen. Die Rekrutierung setzte in dem Moment ein, als der Traum vom Blitzkrieg ausgeträumt war und die deutsche Wirtschaft sich auf einen längeren Krieg ohne ausreichende Arbeitskräfte einstellen musste. Da die Ukrainer als zuverlässig galten, wurden sie als erste „angeworben“. Anfangs war das Vertrauen in die Deutschen so groß, dass sich viele freiwillig zum Arbeitseinsatz im „Reich“ meldeten. In Güterwagen, ohne Verpflegung und sanitäre Einrichtungen, wurden sie nach Deutschland gebracht und dort kaum besser als die sowjetischen Kriegsgefangenen behandelt. Sie wurden mit einem Stoffabzeichen, einem O für Ostarbeiter, auf dem Ärmel gekennzeichnet und in Lagern hinter Stacheldraht gehalten, wo Ernährung und Unterkunft mehr als mangelhaft waren.
Helden
„Auf Befehlsverweigerung stand die Todesstrafe“, gab Herbert zu bedenken. „Die Rebellen aus Gewissensgründen wurden auf andere Weise diszipliniert“, erwiderte Melanie. „Haben Sie von Helmuth Groscurth gehört? Von dem Vorfall am 20. August 1941 in Bjelaja Zerkow, 80 km südlich von Kiev? Dort hatte das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C unter der Leitung von Paul Blobel nur halbe Arbeit geleistet. Noch war es nicht Routine, auch kleine Kinder zu erschießen. Etwa 90 Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder waren von den zur Exekution getriebenen Eltern getrennt und in einem Haus unversorgt zurückgelassen worden. Ihr Schreien und Wimmern war unüberhörbar. Oberstleutnant Helmuth Groscurth, Generalstabsoffizier der durchziehenden 295. Infanteriedivision, wurde von den Kriegspfarrern informiert… Er hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg: Solche Maßnahmen gegen Frauen und Kinder unterschieden sich in nichts von den Gräueln des Gegners, die fortlaufend der Truppe bekannt gegeben würden. Generalfeldmarschall von Reichenau, der Befehlshaber der 6. Armee, an den die Beschwerde adressiert war, rügte Groscurths ,Ausdrucksweise’ und ließ ihm ausrichten, dass ‘die einmal begonnene Aktion in zweckmäßiger Weise durchzuführen’ sei“.
Julija
Taras Shevchenko, das Kind leibeigener Bauern aus der Dnjepr-Steppe südlich von Kiev, sei der Inbegriff des ukrainischen Leidens, sagte Julija. Mit Tremolo schilderte sie, wie der Hirtenjunge, einsam auf einem Skythengrab sitzend, den Blick träumerisch über die Steppe habe schweifen lassen. „Die Kinder der Leibeigenen gehörten nicht weniger ihrem Grundherrn als ihre Eltern. Taras Shevchenko fiel seinem Besitzer, der gern hauseigene Talente förderte, wegen seiner Begabung für das Zeichnen und Malen auf. Er nahm den Jungen mit nach Sankt Petersburg und gab ihn zu einem Meister der Freskomalerei in die Lehre. Gleichzeitig begann Taras zu schreiben. Er schloss Freundschaft mit Petersburger Künstlern, die sich für ihn verwandten und ihn schließlich aus der Leibeigenschaft frei kauften. Das Geld dafür soll aus der Umgebung des Zaren gekommen sein“. Shevchenko ließ es jedoch an Dankbarkeit fehlen und bemühte sich nicht um einen Platz in der russischen Kultur, wie nach ihm die Ukrainer Gogol, Bulgakow, Babel, sondern begann, auf Ukrainisch zu dichten. „Er war“ – Julijas Augen leuchteten – „ein Ukrainer von Kosaken-Schrot und Korn, er liebte über alles die Freiheit. Als Ukrainer hasste er die Kolonialherren. Als Künstler fühlte er sich von dem Dominanzanspruch der russischen Kunst herausgefordert. Also malte er ukrainische Motive und schrieb ukrainische Gedichte und Balladen. Eines seiner bevorzugten Themen war der Hajdamaken-Aufstand 1768, in dem sein eigener Großvater Heldentaten begangen hat“.
Rückzug
Der Rückzug war perfekt vorbereitet, erfolgte aber zu spät, um das westliche Dnjepr-Ufer zum uneinnehmbaren „Ostwall“ auszubauen, denn die Sowjets blieben den Deutschen dicht auf den Fersen. Krementschug, Saporoshje, Dnjepropetrovsk waren jetzt die Namen von Brücken, über die man gelangen musste, um sein Leben zu retten. Meisterleistung einer disziplinierten Armee: Hunderttausende ohne Chaos über die angreifbaren Konstruktionen zu leiten, darunter 200.000 Verwundete, ganze Herden von Rindern und Schafen sowie die Trecks der Kosaken und Turkstämme aus dem Kaukasus, die mit Kind, Kegel und Hausrat die Deutschen begleiteten, um der Rache der Roten Armee zu entgehen. Doch auch dieser Rückzug stand im Zeichen der Barbarei. Die Parole „Verbrannte Erde“ bedeutete die größtmögliche Schikane für die Zivilbevölkerung. Die Deutschen nahmen den Kleinbauern nicht nur die letzte Kuh und das letzte Saatgut weg und zündeten ihnen das Dach über dem Kopf an, sie schleppten auch die Männer nach Westen, die das Land hätten wiederaufbauen und die Felder bestellen können. Die Hungersnot, die in der Ukraine und anderen ausgeplünderten Landstrichen nach Kriegsende weitere Millionen Todesopfer forderte, war eine direkte Folge der deutschen Besetzung.
Captains’ Dinner
Burghart erzählte, als Zehnjähriger sei er jüngstes Mitglied einer Wehrwolf-Gruppe gewesen, die aus einem halben Dutzend Jungen bestanden habe und von einem Dreizehnjährigen, Peter, angeführt worden sei. Sie hätten an Hitlers Durchhalteparolen geglaubt und seien entschlossen gewesen, die Amerikaner aus dem Hinterhalt anzugreifen, um das legendäre XIII. SS-Armeekorps, das überall und nirgends war, bei seinem Verteidigungskampf zu unterstützen. Sie hätten verlassene Stellungen in den kleinen Wäldern rund um das Dorf aufgespürt und dabei ein paar Handgranaten gefunden. Der Lehrer habe davon erfahren, sie zur Rede gestellt und damit gedroht, ihre Mütter zu informieren, wenn sie die Waffen nicht ablieferten. Die wirksamste Erziehungsstrafe in jener Zeit sei Nahrungsentzug gewesen, das habe keiner von ihnen riskieren wollen. Außerdem, sagte Burghart, hätten sie nur theoretisch gewusst, wie man eine Handgranate bedient und sich vor diesen Dingern doch etwas gefürchtet. Allerdings sei die SS dann ohne Kampfhandlung abgerückt, und seine Mutter habe ihn, als die Amerikaner sich dem Dorf näherten, im Keller eingesperrt. Später hätten er und seine Freunde sich in Sabotage geübt, indem sie einige Telefonkabel der Besatzer durchtrennten.
Dinas Bericht
„Auf dem Friedhofsgelände nahmen die Deutschen ihnen das Gepäck und die Wertsachen ab und leiteten sie in einen so genannten »Korridor« von etwa drei Metern Breite, der von Deutschen gebildet wurde, die zu beiden Seiten mit Stöcken, Gummiknüppeln und Hunden dicht beieinander standen. Meinen Vater, meine Mutter und meine Schwester hatte man abgedrängt, sie gingen schon viel weiter vorn und ich konnte sie nicht mehr sehen. Alle diejenigen, die den »Korridor« passierten, wurden von den Deutschen grausam verprügelt, sie drängten auf den Platz am Ende des »Korridors« , dort wurden sie von Polizisten ausgezogen, sie wurden gezwungen, die ganze Kleidung abzunehmen, bis auf die Unterwäsche. Dabei wurden die Leute auch geschlagen. Beim Durchgang durch den »Korridor« wurden schon viele Leute getötet. Dann wurden die Verprügelten und Ausgezogenen gruppenweise an die Schlucht Babij Jar gebracht, an die Stätte der Erschießung“…
Aktion 1005
Seitdem Gebiete aufgegeben werden mussten, in denen Massengräber den begangenen Völkermord bezeugten, der vor der Welt längst kein Geheimnis mehr war, hatte das Reichssicherheitshauptamt angeordnet, die Indizien dieser Verbrechen zu beseitigen. Himmler hatte Paul Blobel, den ehemaligen Kommandoführer des Sonderkommandos 4a und Schlächter von Babij Jar, beauftragt, die Hunderttausende verwester Leichen aus der Welt zu schaffen, die zum größten Teil in Massengräbern verscharrt waren. Blobel begann mit der „Aktion 1005“, benannt nach ihrem Aktenzeichen im RSHA, zunächst in den Konzentrationslagern in Polen, aber nach Babij Jar kam auch.
Herbert
„Und nun bitte ich um Ihre Schlussfolgerung“, sagte er. „Was sich verändert hat, seit ich jung war und gegen die Nazi-Generation rebellierte“, antwortete Melanie, „ist das Verhältnis der Deutschen zu den Opfern. Die Kinder der Täter brachen mit ihren Vätern, um den Opfern Respekt zu erweisen. Das symbolisierte Willy Brandts Kniefall in Auschwitz. Die Generation der Enkel hat offenbar die Selbstrechtfertigung der Großväter verinnerlicht. Die Gespräche innerhalb der Familie liefen darauf hinaus, dass „Opa kein Nazi war“.Außerdem gab es kaum eine Familie, die nicht einen Blutzoll entrichtet hätte. Hitler hat nicht nur die Juden vernichtet, sondern auch die Jugend Europas, die einen heimtückisch, die anderen auf den Schlachtfeldern. Die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern verwischt sich. – „Ist das gut oder schlecht?“ Ihr fiel der Satz ein, den Sophie aus den Erinnerungen des Grafen Segur zitiert hatte: „Die lachenden Farben der Fabel verschönern die Geschichte barbarischer Zeiten. Das ist die Geburt des Mythos… Ich will nicht, dass der Mythos, in den das Dritte Reich sich unter unseren Augen zu verwandeln beginnt, die Opfer aus der Geschichte drängt. Noch nicht. Wissen Sie, dass dem Holocaust mehr Kinder zum Opfer fielen, als Erwachsene? Sie wären jetzt so alt wie wir, und jünger“.