Dieses Buch ist eine Collage von Erinnerungen an den Überfall auf die Ukraine im Juni 1941, mit dem der deutsche Angriffskrieg gegen die Sowjetunion begann
Borysthenes – Landschaft und Trauma:
Die ukrainische Wunde
von Sybil Wagener
Sybil Henning Verlag e.K.
Das literarische Drehbuch
Karl-Marx-Allee 141
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Warum dieses Buch?
Kriege hinterlassen nicht nur Trümmer und Verwüstung, sondern bringen auch eine besondere Art von Landschaftsgestaltung hervor: Soldatenfriedhöfe, Gefallenen-Denkmäler und weithin sichtbare Sieges-Symbole, als ob Geschichte nicht weitergehen könnte ohne die solchen „Erinnerungsorten“ eigentümliche imaginäre Wiederholung der Dystopie. Mahnmale sind nicht obsolet. Ihre Funktion ist es, virtuelle Trauergemeinden zu bilden. Das Gedächtnis braucht einen räumlichen Rahmen, da die Ereignisse, an die man sich erinnert, in einem bestimmten Raum stattfanden, den man mit-erinnert (Maurice Halbwachs). Erinnern muss sein, denn es beglaubigt: Da war etwas. Ein Mensch. Viele Menschen. Vergessen ist wie auslöschen: da war nichts. Der symbolische Moment der Schweigeminute integriert private und öffentliche Trauer. Der Vergangenheit an die Orte zu folgen, wo sie ihre Spuren hinterlassen hat, kann die Vorstellung bis ins Visionäre intensivieren und die Empathie in Katharsis umwandeln; eine Möglichkeit der Bewältigung, die der Intellekt nicht leistet. Die Spurensuche kann aber die Welt auch als den trostlosesten, den gottverlassensten Ort entlarven, wo Menschen vernichtet und verscharrt worden sind, als seien sie nie etwas anderes gewesen als Materie.
Das gefälschte Flugbuch und die Pilgerschaft zu den Erinnerungsorten
Das kollektive Gedächtnis beginnt, wie Maurice Halbwachs herausfand, als Familienfabel. Es wird erzählt und weitererzählt; aber längst nicht alles. Im kommunikativen Verband der Familie entwickeln sich private Mythen, beziehungsweise Lebenslügen. Kindern fällt es auf, wenn Gespräche abbrechen, sobald sie dazu kommen; sie spitzen ihre Ohren umso aufmerksamer. Die Tageszeitung war mir als „Nichts für Kinder“ verboten; ich buchstabierte sie trotzdem und erfuhr auf diese Weise sehr jung die Wahrheit über die KZs. Damit, so wurde ich beruhigt, konnte mein Vater nichts zu tun haben. Das war die SS, hörte ich immer wieder, nicht die Wehrmacht.
Das kollektive Gedächtnis spaltete sich in das der Opfer und das der Täter. Die Täter reagierten mit Leugnen. Die Stimmen der Opfer waren nur eine Zeitlang laut genug, um gehört zu werden. Die zweite Generation (meine) teilte sich auf in Täterkinder, die sich auf die Lüge ihrer Eltern einließen (und damit die dritte Generation der Holocaust-Leugner vorbereiteten) und diejenigen, die bereit waren, in den Abgrund zu blicken und Wiedergutmachung zu leisten. Meine Brüder wurden auf ihren Universitäten agitiert. Sie nahmen den Vater ins Verhör, aber es kam nichts dabei heraus. Er sei Flieger gewesen. Hoch oben in den Wolken! Über den Dnjepr nach Osten, über den Dnjepr nach Westen. Nein, er habe nichts bemerkt. Nichts. Jahre später, nach seinem Tod, stellte sich heraus, dass die Schubladen, in denen meine Mutter Hunderte von Feldpostbriefen gesammelt hatte, leer waren. Dass es meinen Eltern notwendig erschien, seine Briefe nach dem Krieg zu vernichten, lässt nicht auf kritische, oder wenigstens unbehagliche, Kommentare meines Vaters zu dem, was er sah und erfuhr, schließen. Da die Post des Generalstabsoffiziers nicht zensiert wurde, hätte er sich nicht unbedingt linientreu äußern müssen.
Ukraine-Pilgerfahrt der Veteranen
Als ich mich im Sommer 2003 in Kiew auf dem MS „Borysthenes“ für eine Kreuzfahrt auf dem Dnjepr einschiffte, hatte ich, neben dem beruflichen, ein starkes persönliches Motiv. Seit diese Passage für westliche Touristen zugänglich war, hatten ehemalige deutsche Kriegsteilnehmer immer wieder die Gelegenheit benutzt, um unauffällig an die Schauplätze des Russlandfeldzugs „Unternehmen Barbaross“ zurückzukehren. Ich rechnete nicht damit, solche Veteranen noch anzutreffen. Aber wer waren die, die derzeit diese Passage buchten? Die Kinder, die Enkel? Und was versprachen sie sich davon? Der Zweite Weltkrieg lag damals zwei, inzwischen sind es drei, Generationen zurück, und die Jüngeren können sich gewiss nicht mehr persönlich an jene Zeit erinnern.
Was bedeutet einem der Ort der Schlacht, in der ein Vater oder Onkel fiel, und deren Spuren längst getilgt und überwuchert sind? Was löst ein Grab mit einer bestimmten Nummer in einem Feld mit Tausenden von Kreuzen in einem aus, wenn man weiß, diese Nummer steht stellvertretend für ein bestimmtes Mitglied der Familie? Es kann sich nur um Erinnerungen aus zweiter Hand handeln, um Erzählungen, um Legenden. Wie kommt man auf die Idee (wie kam ich auf die Idee) an diese schauerlichen Orte zu reisen, eines Totengedenkens wegen, das archaischer als alle Bestattungsrituale ist? Das muss tief sitzen: diese Solidarisierung mit denjenigen von uns, die schon gegangen sind und die wir anscheinend instinktiv nicht allein lassen wollen.
Teilweise erhalten ist sein Flugbuch. (Das Flugbuch ist das lebenslange Logbuch eines Fliegers, worin jeder einzelne Flug mit Datum, Start und Landeplatz, Uhrzeit, Entfernung, Dauer des Flugs, Flugzeugtyp, Bemerkungen eingetragen ist). Dieses ca 1937/8 begonnene Dokument weist allerdings Lücken auf; jeweils mehrere Seiten sind herausgerissen, schon der Anfang ist entfernt, Flug 1 bis 1103, vermutlich die Flüge im Herbst 1939, als die Luftwaffe Warschau bombardierte. Dokumentiert sind erst die „Feindflüge“ ab Juli 1940 von französischen Flughäfen aus nach England. Dann fehlen wieder fast 200 Einträge, die Flüge 1212 bis 1393, insgesamt 181 Starts und Landungen über den ganzen Zeitraum, in dem Jugoslawien und Griechenland besetzt wurden, sowie die ersten drei Monate des Russlandfeldzugs “Unternehmen Barbarossa”. Warum wurden gerade diese Seiten entfernt? Vermutlich war das Flugbuch ein Dokument, das die Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren einsehen wollte. Für die gelöschten Zeiträume galt, so viel ist sicher, dass mein Vater lieber nicht dort gewesen wäre, wo er in Wirklichkeit war. Was hatte er zu verbergen?

Der Holocaust wurde nicht in der Ukraine erfunden
Ich recherchierte in Militärarchiven. Es gibt noch andere Quellen, aus denen sich sein Aufenthaltsort erschließen lässt, z. B. die Liste der Standorte der Stäbe. Er war Quartiermeister des IV. Fliegercorps, das bis zum Überfall auf die Sowjetunion in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 in Bukarest lag. Die Horste seines Geschwaders waren Bacau (21.6.41-2.7.41) und Jassy (2.7.41-16.7.41) in Rumänien. Es war der Name, der mich alarmierte: In Jassy (40 km von Bacau entfernt) fand am 29. Juni 41 das erste, entsetzliche Progrom gegen die jüdische Bevölkerung statt, dem mindestens 13 000 Menschen zum Opfer fielen. Die Initiative ging zwar nicht von den Deutschen aus, sondern von dem rumänischen Diktator Ion Antonescu, der ein fanatischer Antisemit war. Sein „Masterplan“, alle Juden vom rumänischen Territorium zu vertreiben, wurde zur Vorlage für die Beschlüsse der Wannsee-Konferenz im Januar 1942. Jassy war der Auftakt des Vernichtungskrieges. Menschenjagd und Massaker erstreckten sich über die ganze Stadt, in der sich auch Wehrmachtsangehörige aufhielten.
Die Massaker von Jassy, realisiert durch rumänische Polizei in Uniform, stuften den Genozid, der den Vormarsch der deutschen Truppen begleitete, zu einem Déjà-vu-Erlebnis herunter. Das Entsetzliche enthüllte sich nicht nach und nach, sondern ein für alle Mal. Und mein Vater, Quartiermeister des Stabes, der in eine zwei Tage zuvor „judenfrei“ gemachte rumänische Stadt verlegt wurde, sollte von dem Blutbad nichts erfahren haben? Als Studenten haben meine Brüder und ich ihn unter Druck gesetzt und keine andere Antwort erhalten als diese: Er habe von all dem nichts gewusst. An der vordersten Linie der Front, Quartier und Kasino mit den SS-Offizieren der Einsatzkommandos teilend, hat er nichts gesehen, nichts gehört, nichts erraten?

Ukrainische Fliegerhorste
Ich sichtete meine Recherchen, ging die im Flugbuch genannten Fliegerhorste durch, stellte fest, dass die meisten von ihnen am Dnjepr lagen: Kiev, Dnjepropetrovsk, Nikolajew, Saporoshje, Cherson, Odessa. Das Reisebüro Cook bot Schiffsreisen auf dem Djnepr an. Ich buchte eine Einzelkabine. Was versprach ich mir davon? Aufklärung? Die Augenzeugen sind tot. Was ich unternahm, war eine Reise des Gedenkens, die das kollektive Gedächtnis stärken sollte. Ich war eines jener Täterkinder, die sich in den 60er-Jahren die Kollektivschuld auf das eigene Gewissen geladen haben.
Es war mir klar, dass nun die Hinterbliebenen der gefallenen Soldaten unterwegs waren, um nach den Gräbern ihrer Väter und Großväter zu suchen. Ich wollte herausfinden, ob es allen Deutschen meiner Generation bewusst ist, dass sich der Holocaust hauptsächlich in der Ukraine, während jenes Feldzugs abgespielt hat, und dass die Wehrmacht, vielleicht sogar der eigene Vater, daran beteiligt war. Den Mördervätern ihre Lügen nicht abzukaufen, hat die Nachkriegs-Generation moralisch gerettet; das Echo ihres Aufstandes machte Deutschland wieder gesellschaftsfähig. Die Täter schienen sich angesichts des Aufklärungsstandes zurückgezogen zu haben, aber in Wirklichkeit brüteten sie, wie man inzwischen weiß, eine dritte Generation von Holocaust-Leugnern aus. Was also erwartete ich mir von dieser Reise? Vor allem wollte ich die Topographie verinnerlichen: als Erinnerungsorte.
Die Ukraine war immer ein Grenzland
Geschichte geschieht in der Welt; jedes Ereignis hat seinen Schauplatz. Unsere Imagination braucht für Tatsachen, die aus Wörtern und Zahlen bestehen, einen visualisierbaren Raum. Wo sich etwas abspielte, ist ebenso wichtig wie die Beschreibung dessen, was sich abspielte. Der gewaltige Dnjepr, der in der Antike nach einer skytischen Flussgöttin „Borysthenes“ genannt wurde, ist nicht einfach ein Fluss; er ist wie ein stark strömendes Binnenmeer, das ein hart umkämpftes Grenzland teilt. Vergangenheit und Erinnerung scheinen manchmal zu verschmelzen, doch kann es sich nur um eine Täuschung handeln, denn die Vergangenheit ist lange her und die Zeit läuft unaufhaltsam weiter. Die topographische Vergewisserung bietet einen Moment der Sicherheit: hier war es. Also ist es wirklich geschehen.
Auf der „Borysthenes“ herrschte Routine. Geschichte und Kultur der Ukraine wurden den Passagieren in Vorträgen nahe gebracht und die nationale Abgrenzung von der Kolonialmacht Russland betont. Die beiden konfessionell und politisch unterschiedlichen Dnjepr-Ufer waren erst im 20. Jahrhundert in mehreren Anläufen, zuletzt 1991, zu einem unabhängigen Staat vereinigt worden. Ich erlebte die Schiffsreise 2003 gespalten – als Jetzt, als Vergangenheit, und im Gespräch mit Deutschkundigen auch als Zukunft. Die Menschen, die ich traf, schienen auf etwas zu hoffen. Ein Umbruch bereitete sich vor. (Ein Jahr später wird die Orangene Revolution die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ukraine lenken).
Die Vereinnahmung der Ukraine durch die russische Kultur
Die Sehenswürdigkeiten nahmen kein Ende. Der Dnjepr und seine fernen Ufer. Kiev mit Sophienkathedrale und Höhlenkloster, die Hebebrücke von Krementschug, die Kosakenschau von Saporoshje, die Oper in Odessa. Die Krim, Höhepunkt der Reise, war erst seit kurzem für westliche Touristen zugänglich und zeigte überall russische Spuren: In den Kriegerdenkmälern und Leninstatuen, in der Anwesenheit der Schwarzmeerflotte, in der russischen Literatur. Erst hier wurde der II. Weltkrieg zum Thema: als Heldenepos der Roten Armee. Auf dem Soldatenfriedhof von Gontscharnoje gaben sich die Angehörigen von deutschen Kriegsgefallenen zu erkennen, auf den Sapúnhöhen, zwischen musealen Waffen, endlich auch das winzige Häuflein greisenhafter deutscher Veteranen.
Die vorliegende Chronik ist inzwischen um eine weitere Erinnerungsschicht gewachsen: Nach 2000 entfaltete sich die Ukraine als ein aus kolonialen Verhältnissen befreites Land, das sich seiner eigenen reichen Geschichte hoffnungsvoll vergewisserte. So umfasst diese Erzählung, eingebettet in die Landschaft, die der gewaltige Dnjepr geformt hat, nach dem Krieg noch eine weitere Ebene der kollektiven Erinnerung: die kurze, intensive Zeit der Freiheit.
Als ich mich entschloss, meinen Part in dieser Reise an eine fiktive Figur – Melanie, gleichen Alters, mit dem gleichen Beruf -– abzugeben, ging es mir darum, die Ebene der Dokumentation mit ihren Beweiszwängen und ihrem Empathieverbot zu verlassen, das Narrativ mit Interpretation anzureichern und flüchtige Begegnungen um sinnstiftende Verläufe zu erweitern. Kurz: ich habe einen Roman geschrieben, der Gegenwart und Geschichte zu einem Text bündelt, der eine mögliche Fortschreibung dessen zeigt, was wirklich gewesen ist. Erinnerung ist immer gefärbt; auch meine. Daher die Erklärung, dass die Handlung frei erfunden und die Ähnlichkeit der Figuren mit lebenden Personen Zufall ist. Nur wenn sie „ich“ sagt, spricht die Autorin für sich selbst.
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